TAO Unternehmensberatung

Fachbeiträge A-Z

Aufmerksames Zuhören - eine Vorbedingung gelungenen Beisammenseins

Das größte Problem in der Kommunikation ist die Illusion, sie hätte stattgefunden. (George Bernhard Shaw)

Einen kurzen Beitrag zum Thema „Kommunikation" mit einem Hinweis beginnen zu wollen, der aufzeigt, von welch zentraler Wichtigkeit eine solche Themenstellung ist, gestaltet sich schwierig. Zu selbstverständlich scheint es, dass gelingende Gespräche die Vorbedingung für beinahe alles Menschliche sind. Vermutlich könnte man es schon mit dieser einen Feststellung belassen.

Bernhard Pörksen versucht den Auftakt eines (2014 publizierten) Gesprächs mit dem aktuell vermutlich prominentesten deutschsprachigen Kommunikationsforscher, Friedemann Schulz von Thun, mit der Frage, wie man das so einflussreiche Werk seines Gesprächspartners in einem Satz zusammenfassen könnte. Nicht untypisch für anspruchsvolle Gespräche ergibt dieser Versuch vorerst eine Irritation.

Schulz von Thun verweigert eine solche Reduktion und so wird Pörksen, als Professor für Medienwissenschaft, seinerseits gebeten eine solche Zusammenfassung zu wagen. Sein Antwortversuch: Ich denke tatsächlich, dass Ihr Werk auf einer einzigen fundamentalen Einsicht basiert. Man könnte sie folgendermaßen formulieren: Die Qualität der Kommunikation bestimmt die Qualität unseres Lebens.“[1]

Zitat Kommunikation Wie so häufig ergibt vermutlich schon die Einfachheit dieser Einsicht verbunden mit der gedanklichen Tiefe spontane Zustimmung, verweist sie doch implizit in ihrem Kern auf eine unhintergehbare Grundbedingung menschlicher Natur: „Wir Menschen sind“ – wie das Carl Rogers in einem bemerkenswerten Gespräch mit Paul Tillich einmal feststellte - „unheilbar sozial“[2]. Eine Fülle von berühmten Zitaten adressiert dieses konstitutive Merkmal unseres Wesens – „Zuerst muss man zu zweit sein“ (v. Glasersfeld, 1990), weil – das scheint tatsächlich eine der unbestreitbaren Wahrheiten gelingender Menschwerdung zu sein – der Mensch tatsächlich nur „am Du zum Ich werden“ kann (vgl. Buber 1948). Diese Erkenntnis, dass wir unentrinnbar als abhängige Lebewesen auf die Welt kommen, ist in der akademischen Philosophie schon seit Aristoteles klar. Der Mensch gilt seit damals als zoon politikon, als soziales und politisches Wesen. In der Moderne wurde dieser so fundamentale Aspekt der conditio humana nach und nach auch im Rahmen der Psychologie postuliert. Die existenzielle Abhängigkeit des Menschen ergibt als Notwendigkeit, dass wir uns auf das, was uns umgibt und uns durch permanente Wechselwirkung konfiguriert, einrichten müssen, – und zwar insbesondere (aber natürlich nicht nur) auf unsere soziale Mitwelt.

Bestimmt also, ausgehend von solchen und ähnlichen Erkenntnissen, die Qualität der Kommunikation die Qualität unseres Lebens, dann ist damit eine vielschichtige Frage aufgeworfen:

Was sind die bestimmenden Merkmale der Qualität von Kommunikation?

Nachfolgend soll nur ein Aspekt dieser Qualität in hier gebotener Kürze fokussiert sein; – ein Aspekt allerdings, der die allererste Grundvoraussetzung darstellt: das „Zuhören“, oder – wie noch zu zeigen ist – noch treffender benannt als „Hin-Horchen“.

Zuhören – die Kunst, beim Anderen, bei der Sache und bei sich selbst zu sein

Wird jemandem wirklich aufmerksam zugehört, dann kann das eine sehr eindringliche Erfahrung sein. Im beinahe ununterbrochenen Gerede der Alltagskommunikation werden solche Momente auffällig, indem ein Unterschied unmittelbar deutlich wird. Wird man in dieser seltenen Qualität tatsächlich wahrgenommen, kann ein solcher Unterschied bedeutsam irritieren. Das Gegenüber schweigt nicht bloß vorübergehend. Es wird deutlich, hier ist man nicht nur mit einem sporadischen „Aufmerken“ konfrontiert, das nur eine kurze Pause markiert, die in erster Linie genutzt wird, um den richtigen Moment zu erkennen, den eigenen, schon vorformulierten Redebeitrag zu platzieren. Man spürt vielmehr eine Bemühung nicht nur aufzunehmen, was man selbst soeben sachlich versucht hat mitzuteilen. In solchen Momenten wird man von der ungeteilten Aufmerksamkeit des Anderen geradezu erfasst. Es wird deutlich spürbar, hier versucht jemand wahrgenommene Zwischentöne aufzunehmen – und zwar nicht nur beim Gegenüber, sondern auch bei sich selbst. Diese Zwischentöne, denen die sprechende Person vielleicht selbst noch keine Aufmerksamkeit gewidmet hat, ergeben einen Widerhall in Form persönlicher Resonanz beim Zuhörenden. Das eigene noch Unbeachtete lässt sich beim Anderen gleichsam „gespiegelt“ plötzlich klarer wahrnehmen. Es lässt sich nach und nach erkennen, dass das eigene gegenwärtige Sein ein gegenwärtiges Gegenüber findet. Ein Gegenüber, das auch sich selbst mit solcher Aufmerksamkeit beachtet, dass etwas noch nicht Erkanntes für beide Beteiligten zum Vorschein kommen kann. Zumeist sind es gefühlsbetonte Qualitäten, die neue Wege eröffnen, um eine bloße Aneinanderreihung von Redebeiträgen in ein bedeutsames Gespräch zu verwandeln. Wird diese Qualität an Aufmerksamkeit aufrecht gehalten, kann sich von Moment zu Moment ein schöpferischer Dialog entwickeln.

Zitat BuberVielleicht werden in diesen meinen Versuchen, diese allzu seltenen Begegnungsmomente zu beschreiben, schon einige wesentliche Differenzierungen deutlich: „Hören“ lässt sich als eine der wichtigsten Gaben der Natur verstehen; – nicht umsonst ist der Hörsinn immer aktiv, lassen sich unsere Ohren aus gutem Grund eben nicht versperren. Zu wichtig sind akustische Signale aus unserer Umwelt für unser Überleben, als dass die evolutionäre Entwicklung hier eine willentlich herbeigeführte „Pause“ als Möglichkeit vorgesehen hätte. „Zuhören“ ist allerdings tatsächlich mehr als nur sich diesem evolutionären Erbe zu überlassen. Keineswegs ist hier bloße Passivität schon ausreichend, vielmehr intensive Aktivität verlangt. „Aktives Zuhören“ ist als Begriff bereits einigermaßen prominent geworden und in der Praxis womöglich schon zu einer routinierten „Gesprächstechnik“ verkommen, die man – in strategischer Absicht – als rhetorisches Manöver zum eigenen Vorteil einzusetzen versucht. Dann wird in NLP-Manier versucht schnell „Rapport“ aufzubauen. Es geht in diesem Verständnis dann darum, „dein Gegenüber ‚abzuholen‘ und dann, wenn die Zeit reif ist, immer wieder sanft die Führung zu übernehmen. […] Nachdem du erfolgreich Rapport aufgebaut und dich auf dein Gegenüber eingestellt hast kannst du übergehen ins Leading. Leading bedeutet, allmählich die Führung im Gespräch zu übernehmen. Du beginnst, die Richtung der Unterhaltung zu lenken, vielleicht indem du das Thema wechselst oder eine Frage stellst, die zum Nachdenken anregt.“[3] Wenngleich man in den typischen NLP-Werbetexten Formulierungen finden kann, die begrifflich an begegnungsphilosophische Texte anknüpfen, so ist doch abgrenzend festzustellen: Ein solches Vorgehen ist geradezu brückenlos geschieden von zwischenmenschlicher Begegnung, die durch den beidseitigen Versuch zu charakterisieren ist, jeglichen Lenkungsimpuls zu unterlassen. Dabei ist eine einzige – letztlich immer paradox verfasste – Intention adressiert, – nämlich möglichst durchgängig, inhaltlich absichtsfrei eine Un-Mittel-barkeit im zwischenmenschlichen Miteinander anzustreben, um tiefe Verstehensmomente zu ermöglichen. Begegnungsorientierte und empirisch vielfältig erforschte Erfahrungen, wie sie gerade für den Personzentrierten Ansatz[4] charakteristisch sind, ergeben den Befund, dass sich wahrhaftige Begegnungen erst dann ereignen, wenn jenseits aller Mittel, Methoden oder angewandter kommunikativer Techniken, sich nichts mehr trennend zwischen Personen stellt. „Zwischen Ich und Du steht kein Zweck. Alles Mittel ist Hindernis. Nur, wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht Begegnung.“ – so formuliert es Martin Buber (1923, 78f), der sicher bedeutsamste Vertreter begegnungsphilosophischer Traditionen.

Carl Rogers, der Begründer der sog. „Personzentrierten Psychotherapie“, kam zunehmend zur Überzeugung, dass eine bestimmte Qualität des aufmerksamen „Hinhörens“ eine der bedeutsamsten Aspekte wachstumsfördernder Beziehungen darstellt. In einem Vortrag 1964 formulierte er nach einigen sehr persönlich gehaltenen Ausführungen, welche Qualitäten er als bedeutsam für Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie erkannt hatte:

„Wenn ich jemanden wirklich hören kann, komme ich in Kontakt mit ihm; es bereichert mein Leben. Durch Zuhören habe ich all das gelernt, was ich über den Einzelnen, über die Persönlichkeit, über zwischenmenschliche Beziehungen weiß. […] Wenn ich sage, dass ich es genieße, jemanden zu hören, dann meine ich natürlich ein tiefes Hören. Ich meine damit das Aufnehmen seiner Worte, seiner Gedanken, seiner Gefühlsnuancen und deren persönliche Bedeutung, ja sogar der Bedeutung, die unterhalb der bewussten Intention des Sprechers liegt. Manchmal höre ich auch in einer Äußerung, die oberflächlich nicht sehr wichtig erscheint, einen erschütternden menschlichen Schrei, der unerkannt in der Tiefe begraben liegt. So habe ich gelernt mich zu fragen: Kann ich die Klänge der inneren Welt meines Gegenübers hören und deren Gestalt erahnen? Kann ich mit seinen Worten so tief mitschwingen, dass ich nicht nur die Bedeutungen spüre, deren er sich bewusst ist, sondern auch jene, vor denen er Angst hat und die er dennoch mitteilen will?“ (Rogers 1981, S. 19f)

Was hier im Kontext der Psychotherapie beschrieben wurde ist ohne Zweifel auch im alltäglichen Miteinander relevant, sofern die an der Kommunikation Beteiligten einen entwicklungsoffenen Dialog beabsichtigen.

Einige notwendige Bedingungen für aufmerksames Hinhören

Wie lässt sich die hier kurz angedeutete Begegnungsqualität, die als Vorbedingung für einen schöpferischen Dialog aufmerksames Hinhören auf das Gegenüber und auf sich selbst benötigt, in alltäglichen, privaten wie beruflichen Situation konkret realisieren?

Innere Vorbereitung

Dazu braucht es sicherlich schon einmal eine Art „innerer Vorbereitung“, die sich mit einigen selbstreflexiven Fragestellungen unterstützen lässt. Es gilt dabei zu prüfen, mit welcher Absicht man im Folgenden zuhören will:

  • Gibt es denn eigene Absichten, die das Gehörte womöglich „filtern“ könnten?
  • Kann ich eine innere Haltung einnehmen, die es mir ermöglicht, die folgenden Äußerungen in ihrer Bedeutung für den anderen, für das Gegenüber tatsächlich zu erfassen?
  • Wird es mir gelingen, eigene Bewertungen, Interessen, Positionen oder Bedürfnisse (zumindest vorerst) einmal beiseite zu stellen – eigene Absichten also passagere zu „suspendieren“?
  • Was wurde tatsächlich gesagt, welche eigenen Interpretationen drängen sich vor und verhindern solcherart die Wahrnehmung der spezifischen Perspektive des Anderen?
  • Kann ich erfassen, was zwar nicht explizit gesagt, tatsächlich aber vermutlich(!) implizit gemeint war?
  • Welche eigenen Bedürfnisse ergeben potentiell innere Impulse das Gesagte zu bewerten, abzulehnen oder gar das Gegenüber gänzlich abzuwerten?
  • Wenn mich etwas zu ärgern beginnt, welches meiner Bedürfnisse scheint durch die getroffenen Aussagen bedroht zu sein? …

Hören

Vor allem gilt es als Hörende*r zunächst dem Gegenüber Eigenzeit einzuräumen, – die Person also schlicht „ausreden“ zu lassen, damit Achtsamkeit sich als Möglichkeit ergibt. Nur so erweitert sich im Gegenüber ein innerer und gleichzeitig ein gemeinsam geteilter Raum. Die eigene bislang unentdeckte und damit ungedachte Gewissheit[5] kann sich nach und nach entfalten. Dieser so zentrale Punkt lässt sich recht anschaulich mit einem alltäglichen und geläufigen Bild verdeutlichen: Man „leiht“ jemandem sein Ohr. Aus der Perspektive des solcherart Beschenkten ergibt sich dann ein „drittes Ohr“, eine zusätzliche und damit erweiternde Perspektive. Gelingt der zuhörenden Person eine Haltung, die das Eigene weitreichend „außen vor“ lassen kann, wird schließlich das „fremde“ Zuhören dem bisherigen Selbstverständnis beigefügt. Das fremde Ohr wird zunehmend zu einem eigenen und damit im doppelten Wortsinne „weiteren“; – eine erweiternde Weise des Hinhörens auf sich selbst und andere lässt sich Schritt für Schritt entwickeln. Das eigene Erleben, hier metaphorisch als innere Melodie konzipiert, wird solcherart nuancenreicher. Neue, bislang unentdeckt gebliebene Zwischentöne lassen nachfolgende Akkorde als überraschend neue Klänge hören, vielleicht stellt sich ein anderer Rhythmus ein, woraus sich sowohl zusätzliche Harmonien wie auch verstörende Disharmonien ergeben können, die häufig eine Vorbedingung für eigene Entwicklung sind. Der eigene Erlebensstrom, hier eben als Musik verstanden, kann neu interpretiert werden, die ursprüngliche „Komposition“ mündet dann vielleicht in ein so noch nie vernommenes „Konzert“, im Sinne eines gemeinsam geschaffenen Zusammenklangs.

Sehen

Charles Pépin (2022) beschreibt diesen, für unsere persönliche Entwicklung so unverzichtbaren, zwischenmenschlichen Prozess entlang unseres Gesichtssinns, er wählt für seine Metaphorik also nicht das Hören, sondern unser Sehen: "Dass ich dir begegnet bin und mir deine Weltsicht zu eigen gemacht habe, hindert mich nicht daran, meine Vorlieben, meine Sicht, meine Anschauung zu behalten, aber sie werden um die deinigen bereichert. Ich habe den Film zwei Mal gesehen: nicht hintereinander, sondern gleichzeitig mit meinen und mit deinen Augen. Seitdem ich dich getroffen habe, nehme ich die ganze Welt gleich zwei Mal wahr." (ebd. Seite 53 f)

Zuwendung

Ist diese hinhörende oder anschauende Haltung dann zusätzlich durch eine Zuwendung charakterisiert, die alles das, was wahrgenommen wird, als solches ohne Vorbehalte würdigt, dann kann auch diese wohlwollende Haltung seitens der sich äußernden Person in Hinsicht auf sich selbst quasi „übernommen“ werden. So wird schließlich der Blick des Anderen zum anderen Blick auf sich selbst.

Wertschätzung

Carl Rogers sprach in diesem Zusammenhang von einer der notwendigen Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie und benannte diese Hinwendung verbunden mit einer tiefen Würdigung der Person des Gegenübers als „bedingungsfreie, positive Wertschätzung“[6]. Empfängt jemand eine solche präsente Aufmerksamkeit, dann ergibt sich ein Klima, das Effekte begünstigt, die Heinrich von Kleist (1878) einmal als ein „allmähliches Verfertigen der Gedanken beim Reden“ so trefflich bezeichnete. Genau diese Effekte könnten ein (zugegeben unbescheidener) Gradmesser sein, ob sich denn ein Gespräch zum vertiefenden Dialog entwickeln konnte. Meine eigene Erfahrung als Therapeut ließ mich erkennen, dass ein therapeutisches Gespräch sich als umso erfolgreicher bewerten lässt, je häufiger sich solche Momente von Selbstüberraschung für beide Beteiligte ergeben. Diese Momente lassen sich ohne Zweifel auch in entsprechenden Alltagssituationen bemerken, wenn es denn gelingt, sich nicht nur oberflächlich zu unterhalten, sondern einander dialogisch zu begegnen.

Empathie

Eine weitere der notwendigen Bedingungen für eine hier beschriebene Qualität des Hinhörens wurde oben zwar schon implizit angedeutet aber noch nicht explizit erwähnt: die Empathie. Eine Abhandlung über das Zuhören, und mehr noch eine in Hinsicht auf das „Hinhören“, muss ohne zumindest kurze Anmerkungen zu diesem genau so schillernden wie auch prominenten Konzept unvollständig bleiben. Die Schwierigkeit dabei: Kaum ein so prominenter Begriff im Kontext der Psychologie wurde derart vielfältig und durchaus unterschiedlich beschrieben und bewertet. Sehen die einen darin einen in erster Linie kognitiv verfassten Nachvollzug von Perspektiven des Gegenübers („ich begreife, was und wie Du denkst und wahrnimmst“), so verstehen die anderen darunter einen die Gefühle einbeziehenden Mitvollzug angesichts der Lebensäußerungen von Beziehungspartner:innen („ich kann nachempfinden, wie Du Dich fühlst, wie Du Deine Situation erlebst“).

Eine umfassende Untersuchung dieser verschiedenen Definitionen und Konzepte kommt letztlich zum Schluss, dass der gemeinsame Nenner vermutlich darin besteht, „dass Empathie eine Form der Teilhabe am Leben Anderer ist: in Form eines Teilens von Erfahrungen und/oder Gefühlen und/oder in Form der Übernahme der Perspektive Anderer. So oder so ist sie ein auf Andere bezogener Modus, der uns über unseren eigenen Horizont hinausträgt und das Miteinander, das Zusammenleben der Menschen, seien sie sich nah oder fern, prägt. Unsere Fähigkeit, mit Anderen mitzufühlen, die Welt durch ihre Brille zu betrachten und uns um Andere zu sorgen, sind elementar für unsere Entwicklung, unsere soziale Kognition, soziale Kooperation, für unser Fremd- und Selbstverständnis und wichtig, um uns als Menschen weiterzuentwickeln.“ (Schmetkamp 2019, S.192)

Im hier behandelten Zusammenhang wird „Empathie“ als ein multidimensionales Konstrukt verstanden, das sowohl emotionale wie auch mentale Aspekte umfasst; - geht es hier doch darum, einige Wesensmerkmale des aufmerksamen Zuhörens aufzuzeigen. Nehme ich mein Gegenüber wirklich als gesamte Person in den Blick - und nicht weniger meint ein achtsames Hinhören - dann wäre die Fokussierung auf nur eine dieser beiden Dimensionen eine Reduktion, die dem komplexen Erleben von Personen sicher nie gerecht werden kann. Bleibt die ausschließlich mentale Perspektivenübernahme und damit der Versuch des Hineinversetzens in die Gedankenwelt die alleinige Bemühung, dann werden die das Verhalten und das Denken(!)[7] konfigurierenden emotionalen Determinanten der Person übersehen. Empathie als die qualitativ anspruchsvollste Form achtsamen Zuhörens wird - im hier gewählten Verständnis - nur bruchstückhaft gelingen, wenn sie entweder nur auf das Mitfühlen oder nur auf das gedankliche Nachvollziehen fokussiert.

Die im Rahmen des Personzentrierten Ansatzes nach Carl Rogers entwickelte Definition des „einfühlenden Verstehens“ betont demgemäß auch beide Dimensionen. Steht das einfühlende Moment dabei für das emotional-intuitive Erspüren der inneren Welt, so adressiert das zweite Element des „Verstehens“ das kognitive Erfassen von spezifischen gedanklichen Sinnzusammenhängen und Bedeutungsgebungen.

Gelingt das aufmerksame Hinhören in hoher empathischer Qualität, dann kann sich eine Beziehungsdynamik entwickeln, die Heinz Kohut (1978), ein bedeutender Psychoanalytiker, einmal trefflich als „stellvertretende Introspektion“ bezeichnete. Die empathisierende Person beginnt also Facetten des inneren Erlebens seines Gegenübers zu erfassen, die für diesen selbst nur am Rande der Gewahrwerdung und also nur undeutlich und unscharf zu erkennen sind.

Wie oben schon einmal erwähnt: Auch Carl Rogers erkannte im Kontext der Psychotherapie, empathisches Zuhören würde mit sich bringen, implizite Bedeutungen zu erahnen, die der Person selbst (noch) gar nicht bewusst waren. Im Sinne einer bedeutungsstiftenden Empathie könnte sich dann therapeutisch intendiertes Verstehen im besten Fall wie folgt darstellen: „Wenn die Welt des Klienten dem Therapeuten klar geworden ist und er sich darin frei bewegen kann, dann ist es ihm möglich, dem Klienten von dem, was diesem erst vage bewusst ist, sein Verständnis zu vermitteln und er kann auch Bedeutungsgehalte im Erleben des Klienten ansprechen, deren sich dieser kaum bewusst ist. Diese höchst sensible Einfühlung ist wichtig, um es einem Menschen zu ermöglichen, dass er sich selbst nahekommt, dass er lernt, sich wandelt und entwickelt.“ (Rogers 1977, S. 216)

Ein weiteres Mal lässt sich feststellen: Was hier für die Psychotherapie erkannt wurde, lässt sich auch im Alltag beobachten, wenn der Versuch gelingt, jemandem feinfühlig zuzuhören. Ein erstes, einfaches Zeichen, dass ein Gespräch beginnt, sich in diese Richtung zu entwickeln, ist bspw. darin zu erkennen, dass der oder die Zuhörende einem Gesprächspartner, der nach einem treffenden Begriff sucht und dabei beginnt „um Worte zu ringen“ hilfreich beisteht und Formulierungen vorschlägt, die sofort in ihrer „Stimmigkeit“ bestätigt werden.

Wie sehr uns Menschen eine für diese empathischen Beziehungserfahrungen grundlegende Befähigung gewissermaßen „in die Wiege gelegt wurde“ zeigen Befunde aus der Entwicklungspsychologie (z.B. Piaget 1995) genauso wie Erkenntnisse der Gehirnforschung (z.B. Bauer 2005). Dass diese zutiefst menschliche Fähigkeit für unser Zusammenleben unverzichtbar ist und dass sich solche Momente, in denen Personen tiefes, gegenseitiges Verstehen durch feinfühliges Hinhören erleben, durchaus häufig beobachten lassen, sofern man nur genügend darauf achtet, soll abschließend die Beschreibung einer kleinen Szene zeigen:

„Der fünfzehn Monate alte Michael stritt sich mit seinem Spielkameraden Paul, der zu weinen begann. Michael reagierte, indem er Paul das Spielzeug überließ, um das sie sich stritten. Paul ließ sich dadurch nicht beschwichtigen, sondern fuhr fort zu weinen. Michael sah ihn überlegend an und streckte ihm dann seinen Teddybär hin – das ihm am wertvollsten erscheinende Objekt. Sicher würde Paul das trösten. Aber Paul weinte immer noch. Nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte, lief Michael in einen Nebenraum und kehrte mit Pauls eigener Schmusedecke zurück. Dass er Paul dessen ganz persönliche Trostquelle reichte, brachte dessen Tränen schließlich zum Versiegen.“ (Hoffmann 1975, S. 141)

Diese kleine Szene verdeutlicht anschaulich den Prozess gelingender Empathie, der sich als ein herantastendes Bemühen zeigt, sich nicht nur vorzustellen, wie es wäre, wenn ich in der Situation des Anderen wäre und was mir helfen würde, sondern sich darin einzufühlen wie das Gegenüber im aktuellen Augenblick die eigene innere Welt erlebt und was darin dessen höchstpersönliche Bedürfnisse und Bedeutungen sein könnten.

Auch wenn es eigentlich beinahe trivial erscheint, es verdient im privaten wie im beruflichen Alltag höchste Aufmerksamkeit, dass die erste Bedingung für gelingende Kommunikation im feinfühligen Zuhören zu finden ist. Stimmt man dann noch der eingangs erwähnten These zu, dass die Qualität der Kommunikation die Qualität des Lebens bestimmt, dann wird die enorme Bedeutung gegenseitigen Verstehens als Folge achtsamen Hinhörens klar; – und so lässt sich dieser kurze Text mit einem Gedanken von Charles Pépin (2022, S. 203) schließen:

„Gute Begegnungen zu haben, ist keine Sache des Zeitvertreibs, sondern eine Frage des Überlebens und die Bedingung unserer Entwicklung.“

Peter Frenzel 2024, www.tao.co.at

 


[1] Siehe Pörksen, B./Schulz v. Thun, F. (2014), Seite 18

[2] Vgl. Rogers, C. / Tillich, P. (1966)

[3]  Siehe dazu (exemplarisch): https://www.mynlp.at/nlp-im-alltag-wie-beeinflusst-rapport-aufbauen-meine-beziehungen/

[4] Siehe dazu exemplarisch: Rogers (1961)

[5] Siehe dazu eine verwandte Formulierung von Bollas (1987, S.1-10), der im „Hier und Jetzt“ therapeutischer Begegnungen implizites Wissen erkennt und damit alles das benennt, was wir immer schon „gedacht“ haben und trotzdem (noch) nicht wissen.

[6] Vgl. dazu Rogers (1957)

[7] Siehe dazu insbes. das von Luc Ciompi (2019) entwickelte integrative psycho-sozio-biologische Modell, dessen zentrale Aussage darin besteht, dass zahllose „Fühl-Denk- und Verhaltensprogramme“ die Bausteine der Psyche ergeben. Wesentlich dabei: Unsere Affekte färben und bestimmen nicht nur unser Erleben und Handeln, sondern ganz entscheidend auch unser Denken. So betrachtet gibt es tatsächlich ein „trauriges Denken“, das sich in seiner logischen(!) Struktur bspw. von einem „aggressiven Denken“ grundsätzlich unterscheiden lässt.


Literatur
Bauer, J. (2005). Warum ich fühle, was Du fühlst. 4. Aufl., Hamburg (Hoffmann & Campe)

Bollas C. (1997). Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte. Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung. Stuttgart (Klett-Cotta)

Buber, M. (1923). Ich und Du, in: Dialogisches Leben, Zürich 1923; zit. n. d. Ausg. Heidelberg (Lambert Schneider), 8. Aufl., 1974

Buber, M. (1948). Das Problem des Menschen. Heidelberg (Lambert Schneider)

Ciompi, L. (2019). Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. 2. Aufl., Heidelberg (Carl-Auer)

Glasersfeld, E. (1990). Zuerst muss man zu zweit sein. Rationale Gedanken zur Liebe. In: Systeme – Zeitschrift der österreichischen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie (2/90), Wien, S. 119-135

Hoffmann, M.L. (1975). The development of altruistic motivations. In DePalma, D.J. & Foley, J.M. (Hrsg.) Moral development: Current theory and research Hillsdale, N.J.:Lawrence Erlbaum Associates, S. 141; zitiert und übersetzt in: Wood, J.K. (1988). Menschliches Dasein als Miteinandersein. Gruppenarbeit nach personenzentrierten Ansätzen, Köln (Edition Humanistische Psychologie), S. 70

Kleist, H. (1878). Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. postum in: Lindau. P. (Hrsg.): Nord und Süd, Band 4, 1878, S. 3-7

Kohut, H. (1978). The search for self (Vols. 1 & 2) N.Y.: International Universities Press. zitiert in Gladstein, G.A. (1983) Understanding empathy: Integrating counseling, developmental, and social psychology perspectives. Journal of Counseling Psychology, 30, (4), S. 467-482

Pépin, C. (2022). Kleine Philosophie der Begegnung. München (Hanser)

Piaget, J. (1995). Intelligenz und Affektivität in der Entwicklung des Kindes. Frankfurt (Suhrkamp)

Pörksen, B. / Schulz v. Thun, F. (2019). Kommunikation als Lebenskunst. Philosophie und Praxis des Miteinander-Redens. Heidelberg (Carl-Auer)

Rogers, C. (1957). The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change, in: Journal of Consulting Psychology 21,2 (1957) 95–103; dt.: Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie, in: Rogers/Schmid 1991, Person-zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis. (1995) Mainz (Grünewald), 2. Aufl., S. 165–184

Rogers, C. (1961). On becoming a person. A therapist's view of psychotherapy, Boston (Houghton Mifflin) 1961; dt.: Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten, Stuttgart (Klett) 1973

Rogers, C. / Tillich, P. (1966). Paul Tillich and Carl Rogers: A dialogue. Parts I and II, Broschüre, San Diego. Wieder abgedruckt in: Kirschenbaum, H. /Land Henderson, V. (1989) Carl Rogers: Dialogues, Boston (Houghton Mifflin); deutsch in: Rogers, C. / Schmid, P.F. (1991) Person-zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis. (1995) Mainz (Grünewald), 2. Aufl., S. 257-273

Rogers, C. (1977). Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie, München (Kindler)

Rogers, C. (1981). Der neue Mensch. Stuttgart (Klett-Cotta)

Schmetkamp, S. (2019). Theorien der Empathie. Zur Einführung. Hamburg (Junius)


 Bildquellen: pixabay, canva, craiyon.com, tao

Drucken

Kontaktieren Sie uns

Wir freuen uns auf Ihre Anfrage.

Hier können Sie uns über die Zentrale kontaktieren. Wenn Sie uns einzeln erreichen möchten, können Sie das gerne über die Teamseiten.

Telefon eMail

Über uns

Wir stehen für langjährige, interdisziplinäre Erfahrung und fundierte Beratung zur Entwicklung von Menschen und Organisationen.

Dabei ist unser Anspruch höchstes Qualitätsniveau in Hinsicht auf Inhalte und Methodik unserer am Kundennutzen orientierten Beratungsformate.

Newsletter-Versand

Infos zu unserem Newsletter

Unser Newsletter erscheint unregelmäßig drei bis viermal im Jahr.

Er beinhaltet Fachbeiträge, Interviews, Buchtipps und Veranstaltungshinweise und kann jederzeit von Ihnen wieder abbestellt werden.

Dies ermöglicht losen Kontakt mit TAO und bringt höchst relevante Informationen für Organisationen und deren VertreterInnen!

Kontaktadresse

TAO Zentralbüro
Sonnenhang 1
4175 Herzogsdorf

 +43 7232 3102

 +43 699 17775775

 office@tao.co.at

Mo-Fr: 8:00 - 17:00 Uhr