Fachbeiträge A-Z

Selbstausbeutung als "Freiheit?" Oder: Erklärungen zur "Müdigkeitsgesellschaft".

Peter Frenzel,

Buchbesprechung des Essaybandes von Byung-Chul Han:

Psychopolitik - Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Byung-Chul Han, Fischer Verlage, 2015

Schon in seinem mittlerweile einigermaßen bekannt gewordenen Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ (1) fokussierte der gesellschaftskritische Philosoph Byung-Chul Han Sozialpathologien, die sich sowohl als gesellschaftliche oder gar globale Krisen wie auch als individuelle Störungen manifestieren. Die zunehmende Überforderung

der Individuen mündet in massenhaft diagnostizierte Erkrankungen wie Depression, ADHS oder Burn-Out. In den letzten Veröffentlichungen des in Berlin lehrenden Professors findet sich der verstörend zutreffende Hinweis, dass ein global wirksames „neoliberales Regime“ ein Selbstausbeutungssystem als Kulturnorm etablieren konnte. Besonders fatal, weil weitreichend unbemerkt, bedient sich dieses Regime dabei einer Machttechnik, die dazu führt, dass viele Menschen sowohl ihre Selbstentblößung via elektronischer Medien als auch ihre zunehmenden Selbstoptimierungsanstrengungen als Ausdruck von Freiheit interpretieren. Übersehen wird dabei, so der warnende Hinweis, dass dieses gesellschaftsweite Verhalten eine Vielzahl von neuen Möglichkeiten der Ausbeutung durch Marktkräfte eröffnet. Wie schon andere Veröffentlichungen des Autors versucht gerade das hier vorgestellte Buch die dabei zur Anwendung kommenden perfiden Machtstrategien (Stichwort „Psychopolitik“) aufzudecken.

Macht PsychopolitikDie nachfolgende Buchbesprechung soll die ungewöhnliche "Dichte" des Essaybandes berücksichtigen, die sich nicht nur durch den gebotenen Inhalt, sondern auch durch den gewählten Stil ergibt. Wie an anderer Stelle schon einmal angemerkt wurde: Byung-Chul Han hat den unzeitgemäßen Mut zum Pathos - und zur klaren Haltung.(2) Wohltuend fällt das durchgängige Fehlen komplizierter Schachtelsätze auf. Über weite Strecken reiht sich Hauptsatz an Hauptsatz - und damit in faszinierender Fülle These an These. Wollte man die solcherart vorgestellten Gedanken nur kommentierend darstellen, könnte die Essenz verwässert werden. So sollen - mehr als sonst in Buchbesprechungen üblich - wörtliche Zitate die Kernaussagen des Autors vermitteln helfen.

Die Beobachtungen des aus Südkorea stammenden Philosophen beunruhigen tatsächlich nachhaltig. Wie aktuell kaum ein anderer trifft Byung-Chul Han mit seinen scharfsinnigen Analysen einen Nerv. Beinahe sollte man in Anlehnung an stark wirksame Medikamente neben einer Buchbesprechung auch einen Beipackzettel verfassen, der vor (Neben-)Wirkungen warnt. Unangenehm, welchen Grad an (Selbst-)Wiedererkennungswert das schmale Taschenbuch erzielt, wenn man die diagnostischen Beschreibungen an eigene Erfahrungen heranführt. Trügerisch als "Freiheit" erlebte Selbstbestimmungsmöglichkeiten werden als Ausdruck neoliberaler Machttechnik entlarvt. Provoziert durch die Ausführungen, stelle ich mir selbst während des Verfassens dieser Buchbesprechung quälende Fragen: Ist mein aktuelles Tun ein Beweis von weit reichend selbstbestimmt gewählter Zeitverwendung - oder nicht vielmehr ein nächster Versuch (dem permanenten Optimierungszwang folgend) das eigene "Bildungskapital" zu erhöhen?

"Der Neoliberalismus ist ein sehr effizientes, ja intelligentes System, die Freiheit selbst auszubeuten. Ausgebeutet wird alles, was zu Praktiken und Ausdrucksformen der Freiheit gehört wie Emotion, Spiel und Kommunikation. Es ist nicht effizient, jemand gegen seinen Willen auszubeuten. Bei der Fremdausbeutung fällt die Ausbeute sehr gering aus. Erst die Ausbeutung der Freiheit selbst erzeugt die höchste Ausbeute." (Han, S. 11)

Das, was wir aktuell als "Freiheit" erleben, ruft zunehmend selbst Zwänge hervor. "Die Freiheit des 'Könnens' erzeugt sogar mehr Zwänge als das disziplinarische 'Sollen', das Gebote und Verbote ausspricht. Das 'Soll' hat eine Grenze. Das 'Kann' dagegen keine. Grenzenlos ist daher der Zwang, der vom 'Können' ausgeht." (ebenda, S.10) Han weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Massenerkrankung "Depression" als Ausdruck einer tiefgreifenden Krise der Freiheit verstanden werden kann. Scheitert der oder die Einzelne in der neoliberalen Leistungsgesellschaft, dann sind Selbstbeschämung und Insuffizienzgefühle die unausweichliche Konsequenz. Nicht die aktuelle Verfasstheit unserer gesellschaftlichen Verhältnisse wird als Hauptursache in Frage gestellt, sondern die eigene Verantwortung sich selbst vorwurfsvoll vor Augen geführt.

SelbstausbeutungAuch die politischen Konsequenzen einer solchen gesellschaftsweiten Selbstbeschuldigung werden im Hinweis auf marxistische Thesen beleuchtet: "Im Regime der Fremdausbeutung ist es [...] möglich, dass die Ausgebeuteten sich solidarisieren und sich gemeinsam gegen die Ausbeuter erheben. Auf dieser Logik beruht ja Marx' Idee der 'Diktatur des Proletariats'. Sie setzt aber repressive Herrschaftsverhältnisse voraus. Im neoliberalen Regime der Selbstausbeutung richtet man die Aggression vielmehr gegen sich selbst. Diese Autoaggressivität macht den Ausgebeuteten nicht zum Revolutionär, sondern zum Depressiven." (Han, S. 16)

Ist heute jede/r Einzelne/r (als "Ich-AG") ein/e Unternehmer/in, dann wird das Individuum Herr und Knecht in einer Person. "Auch der Klassenkampf verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst." (Han, S. 14) Besonders perfide - und dafür finden sich zahlreiche Belegbeispiele in diesem Buch - ist dabei das tief in die Persönlichkeit hineinsozialisierte Erleben scheinbarer Freiheit. Fällt die Unterscheidung zwischen Ausbeutenden und Ausgebeuteten aber weg, dann kann sich auf Basis eines zunehmend vereinzelten und sich selbst "knechtenden" Leistungssubjekts kein politisches "Wir" formen, das zu einem gemeinsamen Handeln fähig wäre. Selbst die historisch so opferreich erkämpfte Emanzipation von transzendent begründeten Herrschaftsordnungen wird im Neoliberalismus wieder verspielt. Die "Diktatur des Kapitals" (S. 14ff) führt nach Han zu einer neuen Transzendenz. Die Politik, als Handlanger des sog. "Marktes", akzeptiert das Kapital als neuen "Herrn" und gerät damit erneut - wie in vormodernen Zeiten - in Knechtschaft.

Diese Knechtschaft wird in einem der ersten Kapitel unter anderem durch die "Diktatur der Transparenz" begründet. Wurde das digitale Netz anfangs noch euphorisch als ein Medium unbegrenzter Freiheit bejubelt, so stellt sich zwischenzeitlich heraus, wie sehr es einer noch nie dagewesenen Überwachung dienlich ist. Han weist darauf hin, dass ein Vergleich mit dem von Jeremy Bentham entwickelten Modellgefängnis sehr nahe liegt. So gab es in dieser Konzeption beispielsweise als zentrale Idee die möglichst umfassende, permanente und kostengünstige Beaufsichtigung der Insassen (ohne dass sie das selbst bemerken). Das berühmte "Panoptikum" zeigt eine Reihe von beunruhigenden, prinzipiellen Analogien zur aktuellen "Informationsgesellschaft", die Unterschiede liegen in der verfeinerten Methodik. "Die Insassen des Benthamschen Panoptikums wurden zum Disziplinierungszweck voneinander isoliert und dürfen nicht miteinander sprechen. Die Bewohner des digitalen Panoptikums hingegen kommunizieren intensiv miteinander und entblößen sich freiwillig. So bauen sie aktiv mit am digitalen Panoptikum. Die digitale Kontrollgesellschaft macht intensiv Gebrauch von der Freiheit. Sie ist nur möglich dank freiwilliger Selbstausleuchtung und Selbstentblößung. Der digitale Big Brother lagert seine Arbeit gleichsam an seine Insassen aus. So erfolgt die Preisgabe von Daten nicht aus Zwang, sondern aus innerem Bedürfnis heraus. Darin besteht die Effizienz des digitalen Panoptikums." (S. 18f) Freiwillig werden jede Menge persönlicher Daten ins Netz geworfen, ohne zu wissen, wer was wann und bei welcher Gelegenheit etwas über den Einzelnen weiß. Nicht nur stellt diese Unkontrollierbarkeit ein ernste Gefahr für unsere Freiheit dar, durch die permanente Selbstenblößung wird auch der Begriff des Datenschutzes obsolet.

digitale SelbstentblößungHan macht deutlich, dass die heutige zunehmend immateriell verfasste Produktionsweise, besonders dann zu steigender Produktivität, Geschwindigkeit und also wirtschaftlichem Wachstum führt, wenn es gelingt Informationen und Kommunikation immer stärker anwachsen zu lassen. Je mehr die Einzelnen durch fortwährende Kommunikation preisgeben, desto mehr Daten sind verfügbar, die sich sehr direkt in Profit verwandeln lassen. Diese entgrenzte "Transparenz" (ein vorwiegend positiv konnotierter Begriff) wird als "Informationsfreiheit" verkauft. Han bezeichnet einen daraus entstehenden Effekt sehr treffend als eine Form der "Entinnerlichung" von Personen. Diese ermöglicht eine weitreichende Beseitigung von Fremdheit, Andersheit und Geheimnis, die allesamt bedeutsame Hindernisse und eine Verlangsamung für grenzenlose Kommunikation bedeuten. Auch dieser weitere Angriff auf die Freiheit findet - folgend dem von Han so vielfältig identifizierten neoliberalen Muster - nicht gewaltsam statt, sondern (wie schon erwähnt) als freiwillige Selbstentblößung. Die solcherart entstandene (entinnerlichende) totale Äußerlichkeit ergibt einen weiteren problematischen Effekt, - eine sehr weit reichende Konformität der einzelnen Individuen: "Zur Ökonomie der Transparenz gehört es, Abweichungen zu unterdrücken. Die Totalvernetzung und Totalkommunikation wirkt schon als solche einebnend. Sie erzeugt einen Effekt der Konformität, als würde jeder jeden überwachen, und zwar vor(!) jeder Überwachung und Steuerung durch Geheimdienste. Heute findet die Überwachung auch ohne Überwachung statt. Die Kommunikation wird wie von unsichtbaren Moderatoren geglättet und auf das allgemeine Einvernehmen heruntergeregelt." (S. 20) Die an dieser Stelle angesprochene "Transparenzgesellschaft", die nur mehr von Zuschauern und Konsumenten bevölkert ist, begründet - politisch zunehmend fatal - eine "Zuschauerdemokratie". Zitat Han: "Der Neoliberalismus macht aus dem Bürger einen Konsumenten. Die Freiheit des Bürgers weicht der Passivität des Konsumenten. Der Wähler als Konsument hat heute kein wirkliches Interesse an der Politik, an der aktiven Gestaltung der Gemeinschaft. Er ist weder gewillt noch fähig zum gemeinsamen politischen Handeln. Er reagiert nur passiv auf die Politik, indem er nörgelt, sich beschwert, genauso wie der Konsument gegenüber den Waren oder Dienstleistungen, die ihm nicht gefallen. Auch die Politiker und Parteien folgen dieser Logik des Konsums. Sie haben zu 'liefern'. Damit verkommen sie selbst zum Lieferanten, der die Wähler als Konsumenten oder Kunden zufriedenzustellen hat." (S. 20f) Han zeigt auf, dass im politischen Kontext Partizipation in erster Linie als Reklamation und Beschwerde auftritt.

Unterstützt, wenn nicht ermöglicht wird diese entpolitisierende Konsumentenhaltung durch eine "digitale Psychopolitik", was zu einer ernsten Krise der Freiheit führt. Nachdem es zunehmend möglich wird umfassendes Wissen über Dynamiken und Inhalte der gesellschaftlichen Kommunikation zu erlangen, entsteht ein Herrschaftswissen. Durch vielfältige und kontinuierlich perfektionierte Methoden eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten die Psyche der Einzelnen auf einer präreflexiven Ebene zu beeinflussen. Es werden immer exaktere Prognosen möglich wie sich die Individuen verhalten, was sie bevorzugen, wie ihre Bedürfnisse sind, ja selbst wie sie empfinden. Bereitwillig stellen die User ihre eigenen omnipräsenten Smartphones als effektives Überwachungsinstrument zur Verfügung. So wird es den konsumkapitalistischen Interessen enorm erleichtert, noch zielsicherer Emotionen einzusetzen, um noch mehr Kaufreize und Bedürfnisse zu erzeugen. „Das ‚Emotional Design‘ modelliert Emotionen, gestaltet emotionale Muster zur Maximierung des Konsums. Heute konsumieren wir letzten Endes nicht Dinge, sondern Emotionen. Dinge kann man nicht endlos konsumieren, aber Emotionen schon. Die Emotionen entfalten sich jenseits des Gebrauchswertes. So eröffnen sie ein neues, unendliches Konsumfeld.“ (S.65)

Unter der Überschrift „Der Kapitalismus der Emotion“ behauptet Han, dass ein fundamentaler Paradigmenwechsel stattgefunden hat. So sei nicht nur eine grundsätzliche Abkehr vom Menschen als „animal rationale“ zu bemerken, indem er zunehmend als Gefühlswesen verstanden wird, es wird auch die These vertreten, dass die Beschleunigung der Kommunikation - eine unerlässliche Vorbedingung für zunehmend immaterielle Produktionsprozesse - eine Emotionalisierung vorantreibt, denn (Zitat Han) „…die Rationalität ist langsamer als die Emotionalität. Sie ist gleichsam ohne Geschwindigkeit. So führt der Beschleunigungsdruck zu einer Diktatur der Emotion. […] Gefragt ist nicht nun nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Kompetenz. Aufgrund dieser Entwicklung wird die ganze Person in den Produktionsprozess verbaut.“ (S.65f)

All das hat natürlich enorme Konsequenzen, - auch für uns Organisationsberater/innen. Dieser Paradigmenwechsel, der sich tatsächlich feststellen lässt, hat längst schon Auswirkungen auf die Grundsätze aktueller Unternehmensführung. „Emotionen gewinnen immer mehr an Bedeutung. An die Stelle des rationalen Managements tritt das ‚emotionale Management‘. Der heutige Manager verabschiedet sich vom Prinzip des rationalen Handelns. Er gleicht immer mehr einem Motivationstrainer. Motivation ist an Emotion gebunden. Die ‚Motion‘ verbindet sie. Positive Emotionen sind das Ferment für die Motivationssteigerung.“ (S.66)

An dieser Stelle des Buches wird eindeutig über das Ziel geschossen. Meine eigenen Erfahrungen als Berater zeigen klar, dass keineswegs das Prinzip des rationalen Handelns im Managementetagen verabschiedet wurde. Im Gegenteil, wird - zumindest argumentativ - sehr engagiert und aufwändig versucht auf die ungebrochene Bedeutung der Zweckrationalität zu verweisen, um solcherart die immer noch „störenden“ Emotionen im laufenden Betrieb zu unterbinden. Worin Han zuzustimmen ist: Selbstverständlich wird auch versucht diejenigen Gefühle, die gewissermaßen „brauchbar“ sind, zu fördern. Eine Fülle von Motivationsworkshops, die wir als Beratungsunternehmen (das sei hier abgrenzend festgehalten) aus grundsätzlichen Überlegungen nie angeboten haben, zeugt eindrucksvoll von solchen Bemühungen. Das (übersehene) Problem dabei: Emotionale Durchlässigkeit, zunehmende „Kongruenz“ (3) in Erleben und Verhalten, Authentizität,… - Zielwerte, die wir tatsächlich in unseren thematisch entsprechenden Workshops verfolgen - lassen sich nicht selektiv steuern. Werden affektive Reaktionen und - daran anknüpfend - emotionale Interpretationen bewusster fokussiert und wahrgenommen, so ergibt sich ein Prozess, der gerade einer „Entfremdung“, wie sie Han zumindest implizit thematisiert, entgegenläuft. „Falsche Bedürfnisse“ (4) lassen sich eben nur durch eine möglichst differenzierte und fokussierte Aufmerksamkeit auf eigene innere Prozesse und damit (auch) Emotionen von den Bedürfnissen unterscheiden, die sehr klar und konstruktiv in Richtung eigener Selbsterhaltung und individueller wie auch gesellschaftlicher Weiterentwicklung zeigen.

Hier noch eine kurze Anmerkung, die meiner eigenen „Verortung“ im Paradigma der Humanistischen Psychologie geschuldet ist: Nie sollte man die „Weisheit des Organismus“ unterschätzen, wie sie von Abraham Maslow (5), Carl Rogers (6) und anderen auf Basis empirischer Befundlagen postuliert wurde. Eine Fülle von Forschungsergebnissen zeigt, dass wir scheinbar enorme (und eben zumeist unterschätzte) Ressourcen „in uns“ haben „richtige“ Entscheidungen zu treffen. Bei Vorliegen definierter (sozialer) Umweltbedingungen, die es ermöglichen die eigenen Affekte weitreichend unverzerrt wahrnehmen zu können, erhalten wir klare Orientierung, was unserer Selbsterhaltung und unserer Weiterentwicklung als Personen tatsächlich dienlich ist.

Damit soll keineswegs einer der zentralen Thesen von Han widersprochen werden, dass die neoliberale Psychopolitik offenkundig alles versucht um sich unserer Emotionen zu bemächtigen und so Handlungen schon auf einer präreflexiven Ebene zu beeinflussen. Allerdings schimmert in so mancher Formulierung des Autors eine Geringachtung personaler Ressourcen durch. An die affektiven Grundlagen, die als ein Ergebnis von Jahrmillionen an evolutionärer Entwicklung am Beginn des Wirbeltierstammbaums grundgelegt und seither weiter entwickelt wurden und eine klare Orientierung ermöglichen, was uns als Individuen wie auch als Spezies weiterhilft, können noch so raffinierte Manöver seduktiver Psychopolitik nie wirklich heranreichen. Wissend, dass es sich möglicherweise naiv anhört: Ich bin auf Basis meiner eigenen Erfahrungen und Beobachtungen zutiefst überzeugt, dass der einzelne Mensch „tief in seinem Innersten“ sehr genau weiß, welche seiner Bedürfnisse sich tatsächlich in Hinsicht auf ein gutes Leben auswirken.

Um einem Vorwand hier gleich präventiv zu begegnen: Selbstverständlich wird nicht geleugnet, dass unsere Bedürfnisse - anders als „Instinkte“ - Resultat von vielfältigen Weltbegegnungen sind. Unsere Erfahrungen konfigurieren unsere Bedürfnisse, so wie umgekehrt diese Bedürfnisse unsere Erfahrungen beeinflussen, es scheint aber, so der Befund humanistischer Psycholog/inn/en, sehr grundsätzliche Bewertungsmaßstäbe auf einer affektiven Ebene zu geben, die uns hilfreiche Orientierung geben können. Dieses von Carl Rogers als „organismischer Bewertungsprozess“ bezeichnete System, das uns als Spezies inhärent ist, wird wie folgt beschrieben: „Der Organismus erlebt Befriedigung durch jene Stimuli oder Verhaltensweisen, die den Organismus und das Selbst erhalten und fördern und zwar gleichermaßen in der Gegenwart als auch auf lange Sicht. Die Aktualisierungstendenz ist hier das Kriterium.“ (Rogers 1959, S.37) Bedeutend ist in dem hier gegebenen Zusammenhang noch der Hinweis, dass die daraus sich ergebenden Intentionen eben nicht in erster Linie egoistisch und sozial unverträglich wirken, sondern genau im Gegenteil zutiefst konstruktiv und prosozial. Auch wenn eine Vielzahl von anderslautenden Menschenbildern permanent versuchen tiefes Misstrauen zu säen, es gibt sehr viel mehr Befunde, die uns zeigen, dass der Mensch kein Irrläufer der Evolution ist, indem er seinem Wesen nach gefährlich ist und deshalb zu bändigen wäre. Beunruhigend ist an der anthropologischen Position der Humanistischen Psychologie bis heute, dass damit exkulpierende Erklärungen für unübersehbare Verbrechen der Menschheit an sich selbst und ihrer Mitwelt mit dem Hinweis auf das destruktive Wesen des Menschen wegfallen. Wir sind sehr viel mehr als zumeist angenommen als Sozietät wie auch als Person für uns selbst und unsere sozialen Verhältnisse verantwortlich.

Der Hinweis auf die subtile Ausbeutung freier Entscheidung und damit eigener Verantwortung, ist das vermutlich zentrale Anliegen des hier vorgestellten Buches. Dabei soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass die daraus entstandenen Thesen und Ausführungen selbstverständlich nicht wirklich neu sind. Eine ganze Reihe von Autor/inn/en wäre hier zur nennen, die sich (zum Teil zwar mit anderen Schwerpunktsetzungen und anderen Begrifflichkeiten) dem hier fokussierten Thema der „Entfremdung“ widmeten, man denke nur an die Ausführungen der wichtigsten Vertreter der „Frankfurter Schule“ (7), einiger prominenter Psychoanalytiker (8) oder gesellschaftskritischer Philosoph/inn/en (9). Die Besonderheit der (allesamt lesenswerten) Publikationen des Autors liegt darin, dass Han diese kritischen Positionen aktualisiert, indem er die immer subtileren Mechanismen von spezifisch „neoliberalen“ Machtstrukturen analysiert. Die nunmehr "smart" sich im Verborgenen entfaltende Macht beschränkt sich nicht mehr darauf Widerstand zu brechen oder Gehorsam zu erzwingen. Wie an anderer Stelle ganz grundsätzlich zu lesen ist (10), zeugt ein gegenläufiger Wille der einem Machthaber entgegenschlägt, eigentlich von der Schwäche dieser Macht. "Je mächtiger die Macht ist, desto stiller wirkt sie. [...] Es ist nämlich das Zeichen einer höheren Macht, dass der Machtunterworfene von sich aus gerade das, was der Machthaber will, ausdrücklich will, dass der Machtunterworfene dem Willen des Machthabers wie seinem eigenen Willen folgt oder sogar vorgreift." (siehe Han 2005, S. 9f) Das geläufige Zwangsmodell von Macht, sieht Han zunehmend außer Kraft gesetzt, wird es doch der nunmehr gegebenen Komplexität nicht mehr gerecht. Macht - so eine der zentralen Thesen des Buches - ist nicht mehr notwendig ausschließend, verbietend oder zensierend, ja sie muss nicht einmal mehr der Freiheit entgegengesetzt sein, - sie macht von ihr Gebrauch!

Macht der FreiwilligkeitZitat: "Die Machttechnik des neoliberalen Regimes nimmt eine subtile, geschmeidige, smarte Form an und entzieht sich jeder Sichtbarkeit. Das unterworfene Subjekt ist sich nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Ihm bleibt der Herrschaftszusammenhang ganz verborgen. So wähnt es sich in Freiheit. Ineffizient ist jene disziplinarische Macht, die mit einem großen Kraftaufwand Menschen gewaltsam in ein Korsett von Geboten und Verboten einzwängt. Wesentlich effizienter ist die Machttechnik, die dafür sorgt, dass sich Menschen von sich aus dem Herrschaftszusammenhang unterordnen. Sie will aktivieren, motivieren, optimieren und nicht hemmen oder unterdrücken. Ihre besondere Effizienz rührt daher, dass sie nicht durch Gebote und Entzug, sondern durch Gefallen und Erfüllen wirkt. Statt Menschen gefügig zu machen, versucht sie, sie abhängig zu machen." (Han 2015, S. 26) Indem die "smarte Macht" eher seduktiv als repressiv vorgeht, setzt sie sich dem Subjekt nicht entgegen, sondern geht scheinbar darauf zu. Positive Emotionen werden evoziert, das Verbot durch Verführung ersetzt. Dieses Vorgehen, darin ist Han mit Sicherheit zuzustimmen, ist wesentlich wirksamer als Anordnungen oder Drohungen je sein könnten. Als zentrale Methodik fungiert dabei - wie oben schon erwähnt - die digitale Psychopolitik. "Man unterwirft sich dem Herrschaftszusammenhang, während man konsumiert und kommuniziert, ja während man Like-Buttons klickt. Der Neoliberalismus ist der Kapitalismus des 'Gefällt-mir'. [...] Die smarte Macht liest und wertet unsere bewussten und unbewussten Gedanken aus. Sie setzt auf freiwillige Selbstorganisation und Selbstoptimierung. So braucht sie keinen Widerstand zu überwinden." (S. 27f)

Nach den erhellenden Analysen neoliberaler Machttechnik folgt eine kritische Auseinandersetzung mit einigen Ideen Foucaults (11), die im wesentlichen aufzeigen soll, dass Foucault - vielleicht durch seinen frühen Tod gehindert - die grundsätzliche Verschiedenheit der Machtstrukturen des industriellen Kapitalismus und des spätmodernen, letztlich neoliberal verfassten Kapitalismus übersehen hat. "Die Machttechnik des neoliberalen Regimes bildet den blinden Fleck der Foucaultschen Analytik der Macht. Foucault erkennt nicht, dass das neoliberale Herrschaftsregime die Technologie des Selbst für sich vollständig vereinnahmt, dass die permanente Selbstoptimierung als neoliberale Selbsttechnik nichts anderes ist als eine effiziente Form von Herrschaft und Ausbeutung. Das neoliberale Leistungssubjekt als 'Unternehmer seiner selbst' (12) beutet sich freiwillig und leidenschaftlich aus. Das Selbst als Kunstwerk ist ein schöner, trügerischer Schein, den das neoliberale Regime aufrechterhält, um es gänzlich auszubeuten." (S. 42)

Der sechste Beitrag des Buches („Healing als Killing“) sollte eigentlich eine Art Pflichtlektüre gerade für uns Beraterinnen, Wirtschaftspsychologen, Psychotherapeutinnen, Supervisoren und Trainerinnen sein. Behandelt es doch die wohl bedeutsamste Realisierung neoliberaler Psychopolitik, wie sie oben kurz skizziert wurde. Selbstmanagementworkshops, Persönlichkeitsentwicklungsseminare oder Mentaltrainings sind, so wird schonungslos aufgezeigt, sehr direkt Ausdruck der hier thematisierten Herrschaftstechnik. Sie zielen darauf ab, "nicht nur die Arbeitszeit, sondern die ganze Person, die ganze Aufmerksamkeit, ja das Leben selbst auszubeuten. [...] Der neoliberale Imperativ der Selbstoptimierung dient allein einem perfekten Funktionieren im System. Blockierungen, Schwächen und Fehler sollen wegtherapiert werden, um die Effizienz und Leistung zu steigern. Dafür wird alles vergleich- und messbar gemacht und der Marktlogik unterworfen. Keine Sorge um das gute Leben treibt die Selbstoptimierung voran. Ihre Notwendigkeit ergibt sich allein aus systemischen Zwängen, aus der Logik des quantifizierbaren Markterfolges." (S. 43) Selten habe ich, als Vertreter der hier adressierten Zunft, so treffsicher formuliert gefunden, was mich selbst schon seit Beginn meiner Berufstätigkeit in diesem Feld permanent beunruhigt. Immer wieder (und mitunter quälend) beschäftigt uns in den Gesellschaftermeetings unseres Beratungsunternehmens, wie wir mit den spezifischen Widersprüchen, denen wir in unserem Berufsfeld begegnen, ethisch vertretbar umgehen können. Der Trost, dass unser kapitalistisch verfasstes Gesellschaftssystem jeden einzelnen Berufstätigen in solche Widersprüche zwingt, egal auf welchem beruflichen Terrain er oder sie sich bewegt, trägt dabei nicht sehr weit. Selbst wenn wir nicht müde werden, in unseren Seminaren oder Workshops auf diese Widersprüche hinzuweisen, um solcherart einen ethischen Diskurs zu eröffnen und entsprechende (dann zumindest reflektierte) Entscheidungen unserer Seminarteilnehmenden zu ermöglichen, - unentrinnbar bleibt uns dennoch die unangenehme Gewissheit in unserem Wirken der omnipräsenten und unaufhörlichen Selbstoptimierung letztendlich Vorschub zu leisten. Unbestreitbar forcieren wir durch unsere Profession die manchmal endlos scheinende "Arbeit am Ich", die nach Han einer "protestantischen Selbstbeobachtung und Selbstprüfung" (S. 44) ähnelt und eine Herrschaftstechnik darstellt. Statt nach Sünden wird nun nach mentalen Modellen, inneren Scripts und Glaubensätzen gefahndet, die dem persönlichen Erfolg entgegenstehen. "Das Ich ringt erneut mit sich selbst als einem Feind. Die evangelikalen Prediger agieren heute wie Manager und Motivationstrainer und predigen das neue Evangelium der grenzenlosen Leistung und Optimierung." (S. 44f) Es gibt Phasen und einzelne Situationen in meinem Arbeitsleben, in denen mich tiefe Zweifel an meinen eigenen ethisch reflektierten Lösungsansätzen befallen, wie mit den unentrinnbaren Widersprüchen umzugehen ist.(13) Letztendlich bleibt mir dabei dann doch immer wieder (nur?) die Hoffnung, dass durch meine (personzentrierten) Versuche, die Personen "hinter den Funktionsträgern" zu erreichen, auch emanzipatorisch wirksame (Neben-)Effekte eintreten (können). Werden Widersprüche, indem wir sie im Rahmen unserer Beratungsarbeit eben bewusst nicht ausklammern, sichtbar und oft genug auch durchaus schmerzlich auf einer personalen Ebene "spürbar", dann ist gar nicht selten ein Prozess in Gang gebracht, der an manchen Stellen zu persönlichen Entscheidungen führt, die nicht mehr nur "blind" den Mythos des Fortschreitens fortschreiben. Würde ich nicht doch immer wieder Belege dafür vorfinden, dass meine Arbeit die bei so vielen unserer Seminar- und Workshopteilnehmenden vorfindbare Selbstentfremdung zumindest ein Stück weit ins Bewusstsein rückt und damit schmälert, dann hätte ich wohl schon längst meinen Beruf wechseln müssen. Es ist Byung-Chul Han wirklich zu danken, dass durch die Veröffentlichung seiner an so vielen Stellen zutreffenden Analyse, unser Blick auf die immer subtiler werdenden Machttechnologien im neoliberal verfassten Kapitalismus, geschärft wird. Ausgehend von einem Blick auf die aktuelle Gesamtlage unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, soll nicht unterschätzt werden, welche positiven Beiträge letztendlich ein differenziertes und fundiertes Sichtbarmachen dieser so unglaublich wirksamen machttechnischen Engführung von Macht und Freiheit bringen kann. So bleibt zu hoffen, dass Ulrich Beck recht behält, wenn er an einer Stelle anmerkt: "Wo Macht Thema wird, beginnt ihr Zerfall." (Beck 2002, S. 105)

Engagierte Aufklärung auf Basis solcher genauso erhellenden wie unangenehmen Analysen ist immer noch sinnvoll, so lautet eine Botschaft, die ich durch die Lektüre dieses vorbehaltlos empfehlenswerten Buches aufnehme. Daraus entstehende Widersprüche sollten ausgehalten und gegebenenfalls auch in Konflikten ausgetragen werden. Ist doch durch die Bedrohung des freien Willens nicht weniger angekündigt als das Ende der Person!

Buchrezension von Peter Frenzel, www.tao.co.at


Literatur:

Beck, U. (2002): Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie. Frankfurt (Suhrkamp).

Foucault, M. (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt (Suhrkamp).

Foucault, M. (1993): Technologien des Selbst, in: Martin, L.H./Gutman, H./Hutton, P.H. (Hrg.): Technologien des Selbst, Frankfurt (Fischer) S. 24-62.

Foucault, M. (2006): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität. Vorlesung am Collége de France 1978-1979. Frankfurt (Suhrkamp).

Fromm, E. (1976): Haben oder Sein? Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München (DVA).

Gronemeyer, M. (2002): Die Macht der Bedürfnisse, Überfluss und Knappheit, Darmstadt (Wissenschaftl. Buchgesellschaft).

Gruen, A. (2013): Dem Leben entfremdet. Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden, Stuttgart (Klett-Cotta).

Han, B.-C. (2005): Was ist Macht? Stuttgart (Reclam).

Han, B.-C. (2010): Müdigkeitsgesellschaft. Berlin (Matthes und Seitz).

Horkheimer, TM. / Adorno, T. (1969): Zur Dialektik der Aufklärung, Frankfurt (Fischer).

Jaeggi, R. (2005): Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt / New York (Campus).

Rogers, C.R. (1959): „A Theory of Therapy, Personality, and Interpersonal Relationships, as developed in the Client-centered Framework“; dt. Übersetzung (1987): „Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen“; Köln (GwG).

Rogers, C.R. (1973): Entwicklung der Persönlichkeit. Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. Stuttgart (Klett).

Marcuse, H. (1967): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. München (Luchterhand).

Maslow, A. (1981): Psychologie des Seins. Ein Entwurf. München (Kindler).

Schwandt, M. (2010): Kritische Theorie. Eine Einführung, Stuttgart (Schmetterling)


Fotos und Bilder: Fotolia und Fischer Verlag

1) Han, B.-C. (2010) 2) siehe dazu https://www.youtube.com/watch?v=GJr-AIbnZEg 3) "Kongruenz" wurde von Carl Rogers (1959) sinngemäß definiert als das Vorliegen der Möglichkeit sich aller bewusstseinsfähigen Erfahrungen, die der Organismus macht, bewusst zu werden und sie im Selbsterleben zu repräsentieren. 4) Zum Begriff der "falschen Bedürfnisse", wie sie von den gesellschaftskritischen Philosophen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung prominent in die Diskussion eingebracht wurden, siehe insbesondere Marcuse (1967) 5) z.B. Maslow (1981) 6) z.B. Rogers (1973) 7) siehe insbes. Horkheimer/Adorno (1969); als aktuelle Einführung in die Positionen der "Frankfurter Schule" s. z.B.: Schwandt (2010) 8) Hier sein an erster Stelle Erich Fromm (1976) genannt, oder (als aktuellere Quelle) Gruen (2013) 9) Wieder nur beispielhaft (für viele andere) seien hier nur zwei Philosophinnen genannt: Gronemeyer (2002) oder (eine jüngere Publikation) Jaeggi (2005) 10) Han, B.C. (2005): Was ist Macht? Stuttgart (Reclam) 2005 11) z.B: Foucault 1976 oder 1993 12) Foucault.M. (2006), S. 314 13) Es soll dabei nicht übersehen werden, dass ein solches "Zweifeln" eben genau die Konsequenz darstellt, die eine ernstgemeinte Bemühung um ein ethisch vertretbares Leben mit sich bringt. Ein Ringen um begründbare Urteile in Hinsicht auf eigene Entscheidungen kann nur ein permanentes "Bezweifeln" bedeuten. Die Lebenskunst besteht dann vielleicht darin, dass ein solcher permanenter Zweifel nicht in eine persönliche Verzweiflung mündet.

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