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"Heimatlosigkeit" - eine gefährliche Gemeinsamkeit!?

„Wo gehöre ich hin? Weg von hier!“ (Peter Handke)

Nicht nur die so ungewöhnlich lange Wahlauseinandersetzung zur österreichischen Bundespräsidentschaft brachte - wieder einmal - einen Begriff in den Fokus der Öffentlichkeit, der wohl zu den schwierigsten gehört, den die deutsche Sprache zu bieten hat: „Heimat“. Lässt man die vergangenen Werbesujets der verschiedensten Politparteien Revue passieren, findet man in tatsächlich allen politischen Epochen und bei den unterschiedlichsten politischen Parteien kaum ein anderes Wort so prominent vor.

Bedrohte Heimat

Naheliegend fällt einem sofort auch die vergangene(?) sog. „Flüchtlingskrise“ 2015 ein; auch im Zuge der damit verbundenen Dynamiken taucht sie wieder auf, - die „verlorene“ oder eben angeblich „bedrohte“ Heimat; - je nach (politischem) Standpunkt und/oder geografischer Herkunft bzw. nationaler Zugehörigkeit und daraus sich ergebender Perspektive. Auch wenn sich daraus nicht selten beinahe brückenlos geschiedene Einstellungen in diametral entgegengesetzten Handlungen ausdrücken; - die Gemeinsamkeit ist eigentlich ganz offensichtlich: Ein enorm wirkmächtiges Bedürfnis wird als fundamental bedroht erlebt. Das Gegensatzpaar „Inklusion“ und „Exklusion“ wird - zumeist ohne explizite Nennung - zunehmend zur bedeutsamsten politischen Kategorie. Damit einhergehend wird „Toleranz“ (als meist „schwammig“ bleibender Begriff) beschworen, oder als Gegenargument(!) die Bewahrung „unserer“ Kultur, - als ob nicht gerade Toleranz immer wieder als einer der fundamentalsten Grundbausteine ebendieser Kultur behauptet würde. Die Gräben reichen tief, werden von nicht wenigen eifrig (und allzu oft „ereifernd“) noch ausgebaut und wirken sich bereits in vielfältiger Weise im Alltag aus. Egal ob in privaten Situationen, innerhalb von Familien, im beruflichen Alltag oder im Rahmen unserer Workshops und Seminare, in politischen Zusammenhängen sowieso, in so manchen Führungsproblemen, die sich in den Organisationen ergeben, usw. … zunehmend wird deutlich: Es gilt eine gemeinsame(!) Verlustanzeige zu machen.

„Kein schöner Land in dieser Zeit…“ - so heisst ein von Rainhard Fendrich betitelter Song, eine Textzeile eines alten deutschen Volksliedes aufgreifend. Ein „Reframing“ dieser Textstelle verändert die ursprünglich von Anton Wilhelm Florentiner von Zuccalmaglio (1803-1869) formulierte Verklärung in ein Bedrohungsbild - „…und keine Heimat weit und breit..“ - „…keine Heimat - nicht einmal ein Zuhaus“ …und weiter „…ein Gefühl als ob Du langsam blutest, ein Gefühl als hättest Du geweint …“

Was genau wird dabei eigentlich als vom Verlust bedroht erlebt? Welche psychologisch zu deutenden Prozesse ergeben diese so wirkmächtige Sehnsucht? Welches Gefahrenpotential ergibt sich bei daran anknüpfender weitläufiger Übung in schon als überwunden erhofften Beschwörungsformeln? Was sollte „hüben wie drüben“ vermieden, was sollte ver- und gesucht werden? Welche Herausforderungen ergeben sich für Person, Gruppe, Organisation, Nation und Kultur? Stimmt es, dass gerade die Globalisierung dazu führt, dass Heimat und das dazugehörige „Wir-Gefühl“ absolut nicht ausgedient haben? Kann Europa heimatliche Gefühle wecken, soll es das überhaupt? Wo ist „Heimat“ zu finden (räumlich, sozial, emotional, politisch, kulturell)?

„Heimat“ - kaum ein Begriff wurde so häufig so missbräuchlich verwendet, - genauer: Keine Sehnsucht wird so weitläufig getäuscht oder - noch genauer: Kein Bedürfnis macht uns so verletzlich wie der Wunsch nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft, damit verbundenen Gewissheiten und Sicherheit. Davon ausgehend ist zunehmend dringlich zu klären:

Was bedeutet „Heimat“ eigentlich?

Diese Frage ist schon häufig gestellt worden und ergibt als ersten Befund schon einmal die Feststellung, dass es sich (mittlerweile) um ein sentimental enorm aufgeladenes Vokabel handelt. Nicht nur wegen der so naheliegenden „Verkitschung“ als Idylle, man denke in diesem Zusammenhang an Heimatfilme und an viele sonstige Formen von nostalgischer Beschwörung einer längst vergangenen und noch überschaubaren Welt, sondern natürlich auch wegen der doch historisch enorm belasteten Vergangenheit, die dem Bedeutungshof dieses Begriffs doch sehr verdunkelt. Davon ausgehend lässt sich ein geradezu reflexartiger Repulsionsmodus im Intellektuellenmilieu feststellen, sobald „Heimat“ nur Erwähnung findet. Werden damit verbundene Gefühle im Zusammenhang mit Erklärungsversuchen von politischen Dynamiken und Sachverhalten herangezogen, gibt es Widerstand und eine damit verbundene Unterschätzung der Bedeutung von kollektiv geteilten Emotionen. Heimatbilder

Gefühle wie „Nationalstolz“, so sehr sie auch einer Illusion entspringen mögen, sollten ausreichende Berücksichtigung finden, will man gesellschaftliche Prozesse umfassend verstehen. So greifen ausschließlich ökonomische Analysen von Ereignissen wie bspw. den wiederholten Balkankriegen (zuletzt 1992-99) zu kurz. Auch Erklärungen, die den versuchten Machterhalt von Eliten in den Vordergrund rücken, übersehen die Bedeutung von Gefühlen, die in Hinsicht auf „Heimat“ entwickelt werden können. Heimat hat selbstverständlich auch in unserer globalisierten Weltgesellschaft mit lokaler Herkunft und jeder Menge an dadurch sozialisierten Kulturmustern zu tun und derartige Prägungen lassen sich nicht einfach abschütteln. Seien manche der hier zu nennenden Gebilde wie „Volk“, „Nation“ oder eben „Heimat“ auch noch so bemüht konstruierte soziale Entitäten, sie können - besonders wenn entsprechende Identifikationsprozesse auch noch gezielt forciert werden - starke Emotionen binden (dazu später).

Es lässt sich ein weitreichender Dissens zwischen den bildungsfernen und den bildungsprivilegierten Bevölkerungsschichten darüber finden, was „Heimat“ bedeutet und bedeuten sollte. Besonderes Gewicht erhält dieser Dissens im Zusammenhang mit der „europäischen Krise“. Schon ist davon die Rede, dass „ein Gespenst in Europa umgeht - das Gespenst des Nationalismus“(1) , das sich in tatsächlich beunruhigender, weil enorm erfolgreicher Weise via „Populismus“ beginnt, sich in die dann demokratisch legitimierten Entscheidungsgremien einzuschleichen.

Die Gefahrenpotentiale sind in diesem Zusammenhang tatsächlich enorm. So warnte vor kurzem der EU-Kommissionspräsident eindringlich vor den Folgen der "rechtspopulistischen Vereinfachungs- und Verführungsmaschine", die wieder angeworfen worden sei: "Wenn man europäische Geschichte kennt, weiß man, was daraus entsteht.“(2) Es ist nicht weniger in Gefahr als das erfolgreichste Friedensprojekt der Geschichte(3) und es ergibt sich - bei näherer Betrachtung - eine dann wirklich tief reichende Demokratiekrise rund um die Frage, wer eigentlich das Volk tatsächlich vertritt und - nicht zu vergessen - wo und wie die Sehnsucht nach „Heimat“ einigermaßen gestillt werden kann.

Sowohl das „Volk“, wie auch die „Heimat“ - beide Begriffe wurden und werden bis zur Unkenntlichkeit verklärt, ideologisiert und missbraucht. „Mythologisch aufgeladene, sentimentale Erinnerung gehört ebenso zum Begriffsfeld Heimat wie banale geografische Ortsbestimmung. Das, was mit Heimat gemeint ist, schwingt zwischen intim Persönlichem und Weltpolitik, ist Anspruch auf Zugehörigkeit wie Fluchtpunkt und Anlass zum Aufbruch. Heimat ist Projektionsfläche der unterschiedlichsten Sehnsüchte – vor allem der nach einer heilen Welt; sie kann Geborgenheit vermitteln, aber auch als Gefängnis empfunden werden, ist Antrieb zur Bewahrung des Überlieferten wie Triebkraft zur Veränderung. Manch einer gerät in Sonntagsstimmung, wenn er dem Begriff Heimat begegnet, andere würden ihn am liebsten zur Ablage an ein historisches Wörterbuch verweisen. Während die einen an der Enge der Heimat leiden, kranken die anderen am Verlust derselben, werden heimwehkrank – kurz: Heimat ist ein vielschichtiger Begriff.“ (Reusch, 2007, 4)

Stellt man in unseren Seminaren die Frage, wodurch eigentlich „heimatliche Gefühle“ geweckt werden - oder - anders herum: Wonach man sich sehnt, wenn man „Heimweh“ erlebt? - dann erhält man sehr unterschiedliche Antworten: Landschaften und die Sprache werden sofort genannt, dann aber auch Gerüche, Laute, Musik, Speisen und Getränke, Bücher, Kulturgepflogenheiten und natürlich und das nicht selten an erster Stelle: Personen und Beziehungen. Heimat Familie

Auch professionelle Meinungsforschungsinstitute (wie bspw. Emnid) berichten, dass auf die Frage, was Heimat denn sei, 68 Prozent (von rund 1000 Befragten) ihre Familien nannten. Mit großem Abstand kam auf Platz zwei die Vertrautheit (42 Prozent), gefolgt von Geborgenheit (40 Prozent) und Kindheit (39 Prozent). Erst dann folgten der Geburtsort (33 Prozent), Traditionen (25 Prozent) und die Nation (19 Prozent). Medizinisch betrachtet, entsteht das sehr individuell verfasste Gefühl durch eine umfangreiche Anzahl an “Engrammen“, also Spuren in unserem zentralen Nervensystem. Spuren, die besondere Eindrücke zumeist mit Verweis auf die wichtigsten Jahre der eigenen Sozialisation hinterlassen haben. Heimat kann damit an verschiedenen Orten empfunden werden, je nachdem an welchen Stellen und wodurch die neuronalen „Verlinkungen“ aktiviert werden. (Vgl. Zöller, R. (2015), 8)

Vielleicht kann ein Blick in die Begriffsgeschichte zur Erhellung beitragen.

„Heimat“ - historisch betrachtet

Was sich aus historischen Reflexionen herauslesen lässt, bestätigt die schon angesprochene Ambivalenz. Ausgehend von der These, dass Heimat „ein reaktiver“ und zugleich „reflexiver Begriff“ ist, wird festgehalten, dass im Verlaufe der Menschheitsgeschichte immer schon und damit wechselhaft gilt: „Heimat reagiert auf Transformationsprozesse - und aus der Reaktion resultiert ein Reflektieren darüber. Erst dieses Zusammenspiel prägt unseren modernen Heimatbegriff.“ Der Begriff war bis zur Neuzeit ohne jede Romantik. „Er war schlicht eine notwendige anthropologische Konstante, die mit harter Arbeit, oft auch mit Armut und Not, verbunden war. Ursprünglich stammt das Wort vom althochdeutschen „heimot“ und dem daraus entstandenen mittelhochdeutschen „heimuot“ ab. Damals bezeichnete es noch sehr konkret Haus, Hof und Eigentum einer Person, den Ort, an dem er geboren war oder sich Land erworben hatte, vergleichbar mit unserem heutigen „ständigen Wohnsitz“. Historische Sicht auf Familie

Mit dem Besitz waren bestimmte Rechte, aber auch Pflichten verbunden, etwa die Pflege der Eltern bis zu deren Tod. Wer längerfristig in die Fremde ging, sich an einem anderen Ort ansiedelte, verlor das Heimatrecht.“ (siehe ebenda, 14f)

 Der erste markante Wandel von „Heimat“ in Europa, ergab sich durch den enormen Modernisierungsschub, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und damit mit dem Einsetzen der Aufklärung. Durch die Napoleonkriege wurden plötzlich Grenzen nicht mehr durch Sprachen, Dialekte und Kultur gezogen und damit als historisch gewachsen verstanden, sondern gewissermaßen auf dem Reißbrett entworfen. In Deutschland etwa folgte 1871 die Gründung des deutschen Nationalstaates, der den dann auftauchenden Heimatschützern als Bedrohung galt. Der bis dorthin geltende politische „Flickenteppich“ hatte regionale Vielfalt ermöglicht und man befürchtete nun Zentralisierung und eine immer mächtiger werdende Hegemonialmacht. Die zeitgleich einsetzende Industrialisierung veränderte nachhaltig Lebensräume, die Menschen verließen die Dörfer und zogen in die Städte, wo es Arbeit gab. Diese einer Völkerwanderung gleichenden Mobilisierungen resultierten in enormen sozialen Verwerfungen. Als dann noch eine Naturkatastrophe globalen Ausmaßes (1815 Vulkanausbruch in Indonesien) signifikante Klimaveränderungen (das „Jahr ohne Sommer“ 1816) bewirkte, kam es ausgelöst durch nachfolgende Hungersnöte zu weiteren Massenwanderungen (insbesondere nach Nord- und Südamerika). „Der Heimatbegriff erlebte angesichts all dieser Krisen, Bedrohungen, Umwälzungen um 1900 den Höhepunkt seiner Popularität. Die Heimatschutzbewegung brachte unzählige Trachtenvereine, Heimatkunde und Geschichtsvereine hervor. Diese schafften ein abstrahiertes Bild von einer romantisch-kitschigen Heimat, die sie als gefährdet oder sogar verloren betrachteten. Die bestehende Zivilisation wurde kritisiert und die Natur idealisiert. Heimatliteratur boomte.“ (siehe ebenda, 17)

Diese durchaus bedeutende Heimatschutzbewegung kann man ohne weiteres als eine Vorläuferin der heutigen grünen Bewegung sehen. Für Klaus Ries, Historiker an der Universität Jena, sind die damaligen Aktivist/inn/en „die Globalisierungsgegner der damaligen Zeit“, wurden doch damals schon eine „enthemmte industrielle Unternehmerschicht und verantwortungslose Politiker“ kritisiert, „die sich mithilfe von Wissenschaft und Technik rücksichtslos über alles hinweg setzten, was ihnen (der Heimatschutzbewegung) wichtig war - über historische Traditionen, soziale Strukturen, die zu dieser Zeit noch sehr nachständisch organisiert waren, und eben auch über die Natur.“ (siehe ebenda, S. 19)

Ein nächster Wandel ergab sich durch die zunehmende Rückbesinnung auf eine verlorene „heile Welt“, die dazu führte, dass sich die anfangs erstaunlich weitreichend international organisierte Bewegung zunehmend national isolierte. Mit dem ersten Weltkrieg wurde Heimat schließlich zu einer Definition der Ausgrenzung. War sie im 19. Jahrhundert noch eine Alternative zum Nationalstaat gewesen und mit diesem in Konflikt gestanden, wurde sie jetzt abstrakter und nach und nach wurde ganz Deutschland zur „Heimat“. Durch die vielschichtigen Effekte des Weltkrieges wurde die ursprünglich vielstimmige, pluralistisch verfasste Heimatbewegung, die ein durchaus breites politisches Spektrum umfasste, nun zunehmend vom völkischen Denken vereinnahmt und damit zu einer unheilvollen Basis für biologistische und rassistische Ideologien. Wie bekannt, wurde Heimat dann im Rahmen des Naziregimes zu einem staatlichen Programm und stand - propagandistisch clever genutzt - vermeintlich in der Tradition der Heimatschützer der Kaiserzeit und der Weimarer Republik.

Was daraus schlussendlich entstand ist bekannt und sollte uns heute als ernste Warnung gelten. Die Parallelen zu hochaktuellen Prozessen und Dynamiken sind an mancher Stelle verblüffend und wirklich beunruhigend.

Wenn der Heimatbegriff, wie oben schon angemerkt, auch in einer langen Zeit der Ächtung aus intellektuellen Diskursen(4) geradezu verbannt wurde, so war (und ist) die Sehnsucht, die sie anzusprechen scheint, durch rationale Bemühung eben nicht zu überwinden. Die Anti-AKW-Bewegung sowie die verschiedenen revoltenartigen Widerstandsbewegungen, die auch in Österreich (insbes. rund um die berühmte Besetzung der Donau-Auen in Hainburg) zur Gründung von Grünparteien und zur Stärkung der Ökologiebewegung mit all ihren verschiedenen Ausformungen führte, ergab eine wieder völlig veränderte Wahrnehmung von Heimat. Sie wurde „von einem rückwärtsgewandten, konservativen plötzlich zu einem progressiven Begriff. Sie steht jetzt für Menschen, die Verantwortung für die Welt übernehmen, die sie umgibt.“ (Schmoll, zit. in Zöller, 24)

Das führt bis zur heutigen Situation, in der zu bemerken ist, dass das größte Problem der Grünbewegung eigentlich ihr scheinbarer „Erfolg“ ist. Durch eine immer wieder bemerkbare perfide „List“ des Kapitalismus, die als „repressive Toleranz“(5) bezeichnet wurde und jede auch noch so scharfe Kritik an ihm aufgreift, ihr gewissermaßen einen Marktplatz einräumt und sie dadurch entschärft, verwässert und schließlich sogar aktiv aufgreift, um Profite damit zu maximieren, wird plötzlich beinahe alles „grün“. Nicht nur werden damit dann 300-PS-starke Autos dank Hybridtechnik als ein vernünftiges Statement in Hinsicht auf schützenswerte Umwelt (und damit Heimat) dargestellt, sondern beinahe schon alle Produkte (und nicht mehr nur Lebensmitteln) werden marketingtechnisch mit Umweltetiketten und Bildern von heimatlich anmutenden Motiven versehen, um die zumeist industrielle Fertigung grün zu übertünchen.

Wie oben schon angedeutet: Heimat als (häufig) politisch benutzter Begriff entzieht sich damit mittlerweile jeder klaren Einordnung. „Der linke Heimatdiskurs wird aufgefangen durch ökologische Aktivisten, soziale Regionalprojekte oder die Antiglobalisierungsbewegung. Aber auch die rechte Szene will sich in der langen Tradition der Heimatschützer sehen. […]“…Neonazis nennen sich „Heimatschutz“ und versuchen damit sich als „Kümmerer“ zu positionieren…“Dabei will die ‚Heimatpartei‘ NPD ja keineswegs eine humane Welt gestalten, wie es die Heimatschützer einst anstrebten, sondern schürt Überfremdungsängste. Die greifen auch bei vielen ‚Normalbürgern‘.“(siehe ebenda, 25) Die immer eindeutiger und unverhohlener rechtspopulistisch agierende FPÖ, deren Wahlslogans übrigens immer wieder beinahe identisch mit denen der NPD(!) sind, nennt sich schon seit Jahren „soziale Heimatpartei“(6).

„Heimat“ - psychologische Aspekte

In beinahe allen - immer zahlreicher angebotenen - Büchern zum Themenkomplex „Heimat“ findet sich das berühmte Schlusszitat des Magnum Opus von Ernst Bloch - „Das Prinzip Hoffnung“: »Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Bloch, 1973, 1628)

Entstehen von Heimat

In diesem Zitat wird der oft erwähnte und leicht nachvollziehbare, enge Zusammenhang von Kindheit und Heimat angesprochen. In Gesprächen zu diesem Thema wird schnell deutlich, dass dem Begriff die Annahme einer „Ur-Heimat“ implizit zu sein scheint; - meist als ein Ort gedeutet, der erst nachträglich auf Fremdes stößt und damit verloren geht. Schon in der testamentarischen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies ist dieses Motiv erkennbar. Sowohl entwicklungs- wie auch tiefenpsychologisch liegt die Bezugnahme auf den Geburtsvorgang nahe. Christoph Türcke (2015) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Frage nach jemandes Heimat, meist auf den Ort zielt, wo der Befragte geboren ist. Im Hinblick auf das Geburtstrauma, meint Türcke: „Vielleicht ist ein Mensch nie fremder als im Moment seiner Geburt. Er ist buchstäblich ausgesetzt, muss nun eigens ernährt, gewärmt, geborgen werden, sonst ist er verloren. Neugeborene sind heimatlos, aber sie tun alles, was in ihren bescheidenen Kräften steht, um eine Heimat zu bekommen. […] Neugeborene schreien, greifen, saugen sich Heimat herbei. Und dabei nehmen sie zu: an Kräften, Umfang, Gewicht. Sie wachsen. Wachsen aber können sie nicht, ohne dabei der Umgebung, in der sie sich vorfinden, anzuwachsen. Und wenn man eine erste Definition wagen soll, so könnte es diese sein: Heimat ist die erste Umgebung, der Menschen nach ihrer Geburt anwachsen.“ (Türcke, 2015, 9f)

 Sinngemäß erläutert Türcke, dass damit Heimat als ein ständiges „Zurückwollen“ angelegt ist. Die unwiderruflich verlorene „erste Heimat“, das Phantasma „Mutterleib als Heimat“ muss für immer ein nie erreichbarer Sehnsuchtsort bleiben. Damit wird die Umgebung, der wir dann als Neugeborene zunehmend metaphorisch „anwachsen“, immer nur Ersatz und so betrachtet eine erst „zweite“ Heimat sein. Wie auch in dem eingangs erinnerten Zitat von Ernst Bloch zu lesen ist, wird Heimat damit etwas „was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ und ergibt eine ständige Suche, nach einem Ort, wo alles unproblematisch scheint. Mag das für den Mutterleib vielleicht noch gelten, so ist die Kindheit sicher für niemanden durchgängig so zu erleben. Dennoch verbinden sich mit der frühen Kindheit doch die Zeiten, in denen wir - zumindest relativ betrachtet - doch recht einfach lebten und man sich nicht andauernd hinterfragen musste oder konnte. Schon daraus mag sich ein Teil der unverkennbar nostalgisch verfassten Gefühlslage erklären, die sich rund um den Heimatbegriff bis heute ergibt. Heimat wird - so betrachtet - zu einer Art Scheinwerfer, der in unsere Kindheit hineinleuchtet, in der wir aber nie so waren, wie sie uns heute - im verklärenden Rückblick - erscheinen mag. So wird die Heimat zu einem Ort, „worin noch niemand war.“ Hoffnung Heimat

Bedeutsam scheint dabei noch der Hinweis, dass sich daraus nicht nur eine nostalgische, sehnsüchtige Zurückwendung ergibt, sondern psychologisch auch ein Illusionsort geschaffen wird, der in die Zukunft weist. Man denke in diesem Zusammenhang an die laut UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen) geschätzten 60 Millionen (!) Menschen, die man weltweit zur Zeit auf der Flucht und damit auf der sehr realen Suche nach einer neuen Heimat vermutet oder auch die so häufig anzutreffenden Wünsche einmal dort begraben sein zu wollen, wo man geboren wurde.

Heimat als eine Hoffnung nach größtmöglich unproblematisch erlebbarer Lebenswelt ist damit mit ausreichend gesättigten Bedürfnissen nach Sicherheit, Geborgenheit und einem Verstandenwerden verbunden, das nicht erst mit komplizierten Aushandlungs- und Kommunikationsprozessen errungen werden muss, sondern durch empathische Resonanz von bedeutsamen Anderen gewissermaßen „geschenkt“ wird. Heimat wird zu einer Zone weit reichender sozialer Gewissheit, man ist daheim, man kennt sich (aus), weiß, welches Verhalten hier passend ist - das ureigene und damit unverstellt authentische nämlich -, man kann selbstverständlich werden und nun endlich, der sein, der man wirklich ist. Der damit angedeutete „Kompensationsraum“ zu dem Heimat werden kann, wenn alltäglich in „Öffentlichkeit“ und Beruf vielerlei Zumutungen auszuhalten sind, soll später noch näher ausgeleuchtet werden.

Der hier behandelte entwicklungspsychologisch herstellbare Zusammenhang mit dem Geburtsvorgang zeigt auch einen anderen sehr bedeutsamen Aspekt von Heimat: Die so häufig in vielen Zitaten vorfindbare Verbindung von Heimat mit Abschied. „Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“, - so lässt sich die „klassische“ Position grob skizzieren, entlang der man über Heimat nachzudenken gewohnt ist. Nur diejenigen, die - am besten freiwillig - von zuhause weggehen und dann zurückkehren, werden und können die Heimat wirklich schätzen. Spätestens hier ist Jean Améry zu nennen, der in seinem Aufsatz „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, den vermutlich berühmtesten Hinweis auf die so tief verstörenden und verletzenden Effekte des Vertriebenwerdens eindrucksvoll formuliert hat. Kennt man den Hintergrund seiner eigenen so leidvollen Biografie in diesem Zusammenhang, kann man vielleicht ein klein wenig erahnen wie tief die Verbitterung sein muss, die ihn Sätze finden ließen wie: „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.“; oder: „Es altert sich schlecht im Exil. Denn der Mensch braucht Heimat. Wieviel? ... Er braucht viel Heimat, mehr jedenfalls, als eine Welt der Beheimateten... sich träumen lässt.“ (Améry, 1977, 116)

Wenn Heimat vielleicht sogar in „erster Linie“ Sprache und Kultur bedeutet, weil diese beide Aspekte auf keinen Fall so leicht und schnell zu wechseln sind, wie andere schon erwähnte Facetten, dann wird Heimat als ein Gefühl des „Hingehörens“ erkennbar. Wird dieses Gefühl gewaltsam verunmöglicht oder - in Hinsicht auf die Flüchtlinge - verwehrt, dann ist (wie noch näher ausgeführt werden soll) ein Grundbedürfnis ungestillt; - eine entsprechende Traumatisierung und Beschädigung bis in die Tiefenstruktur der Person ist dann unvermeidlich. Jean Améry: „Das echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. Es bestand in der stückweise Demontage unserer Vergangenheit, was nicht abgehen konnte ohne Selbstverachtung und Haß gegen das verlorene Ich. Die Feindheimat wurde von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr verbunden war. [...] Therapie hätte nur die geschichtliche Praxis sein können, ich meine: die deutsche Revolution und mit ihr das kraftvoll sich ausdrückende Verlangen der Heimat nach unserer Wiederkehr. Aber die Revolution fand nicht statt, und unsere Wiederkehr war für die Heimat nichts als eine Verlegenheit.“ (siehe ebenda, 88)

Das man auch fragen könnte „Wieviel Heimat verträgt der Mensch?“, findet sich schon bei Améry selbst, indem er in seinem berühmten Aufsatz darauf hinweist, „[…] daß ich mir auch der Bereicherungen und Chancen, welche die Heimatlosigkeit uns bot, wohl bewußt bin. Die Öffnung auf die Welt hin, die die Emigration uns gab - ich weiß sie zu schätzen.“ (siehe ebenda, 80) Die hier angedeutete erlebte Spannung in Hinsicht auf Heimweh und Fernweh, verweist auf bedeutsame anthropologische Strukturelemente und damit auf meine Hauptthese in diesem Beitrag.

Zur Dialektik von Heimatsehnsucht und Entwicklungsstreben - oder: Wieviel Gewissheiten verträgt die Person?

Vorerst ist hier nur kurz anzumerken, dass ich selbst in einem spezifischen Ansatz der Humanistischen Psychologie meine geistige „Heimat“ in Hinsicht auf die Frage gefunden habe, wie das Wesen des Menschen ausgehend von anthropologischen Fragestellungen verstanden werden kann. Der „Personzentrierte Ansatz“, wie er von Carl Rogers (z.B. 1959) und anderen umfangreich und für die verschiedensten Anwendungsbereiche entwickelt wurde, hat als fundamentale Basis in einer ungewöhnlich klar ausdifferenzierten Weise ein Menschenbild formuliert, das den Menschen als „Person“ in den Blick nimmt und entsprechende Handlungskonzepte für verschiedene Bereiche wie Psychotherapie, Beratung, Sozialarbeit, Pädagogik und Andragogik, Organisationsentwicklung, Supervision, interkulturelle Kommunikation und Friedensarbeit, Forschung und Kunst vorlegt. (Siehe dazu z.B. Frenzel 2000) Wie mein Kollege Peter F. Schmid in verdienstvoller Weise verdeutlichen konnte, liegt diesem so prominenten und weltweit verbreiteten Ansatz dabei ein in der abendländischen Geistesgeschichte entwickelter anthropologisch-philosophischer Begriff der „Person“ zugrunde; - in der hier gebotenen Kürze dazu: „‚Person‘ ist der Mensch nach zwei einander entgegenstehenden, dialektisch jedoch miteinander verschränkten Traditions- und Bedeutungssträngen, wenn er sowohl in seiner individuellen Einmaligkeit, in seinem unaustauschbaren Wert und seiner unabdingbaren Würde gesehen wird (substanziales Personverständnis) wie auch in seiner Beziehungsangewiesenheit, also in seinem Von-Anderen-her- und seinem Auf-die-Anderen-hin-Sein verstanden wird (relationales Personverständnis). Damit ist die Person ebenso durch Autonomie wie Solidarität, durch Souveränität wie Engagement gekennzeichnet.“ (Schmid 2002, 22)

Das hier nur kurz angedeutete dialektische Verständnis von „Person“ lässt sich mühelos mit der wohl bedeutsamsten „Verhaltensformel“ der Sozialpsychologie verbinden, wie sie von Kurt Lewin (1963) formuliert wurde. Dabei wird grundsätzlich angenommen, dass das Verhalten V eine Funktion der Person P und der Umwelt U darstellt: V = f (P, U) und dass P und U in dieser Formel wechselseitig abhängige Größen sind, also in einem dialektischen Verhältnis zu denken sind. Das „P“ bezeichnet dabei, in personzentrierte Begrifflichkeit gewendet, die „substanziale" Seite (siehe oben) des Menschen und betont damit die Eigenständigkeit, die Möglichkeit der Selbstbestimmung und Autonomie des Einzelnen. Selbstverständlich ist der Mensch verantwortlich für sein Verhalten („V“), wenn nicht gar - so das berühmte Diktum von Jean-Paul Satre - „zur Freiheit verurteilt“. Diese Freiheit wird dabei nicht bloß als eine Eigenschaft unter anderen verstanden, sondern als ursprünglicher Seinsgrund gedeutet. „Auf diese Weise wird der Mensch als ein Wesen der Freiheit sichtbar, - als Wesen, das Freiheit nicht nur hat, sondern Freiheit ist.“ (Joisten, 2007, 41) In unserem Zusammenhang soll dabei besonders der Aspekt des „Aus-sich-Sein“ und „Für-sich-Sein“ herausgestrichen werden; - der Hinweis also, dass es ein inneres „Beheimatet-Sein“ benötigt, ein zutiefst „Eigenes“, ein (selbst-)vertrautes, „in-sich-wohnendes Heimisch-Sein“, aus dem heraus dann Handlungen der Person zurechenbar werden und Verantwortlichkeit entsteht. Hier ist eine Gegenposition zu hypertrophen Auffassungen der Milieutheorie formuliert, die uns nur als eine Art „Spielball“ der äußeren Verhältnisse sehen wollen. Dieser hier zuerst behandelte Strukturbestandteil der Person verhindert, dass man sich selbst verliert, Orientierung behält und in einem Selbst zentriert bleiben kann, von dem aus Überschreitungen erst möglich werden, der „heimatliche“ Aspekt des Selbst gewissermaßen.

In der erwähnten „Überschreitung“ aber wird schon der zweite Wesensaspekt in den Blick genommen: Was bei Lewin und seiner „Feldtheorie“ im sehr umfassendem Sinne als „U“ - also „Umwelt“ - bezeichnet ist, benennt der Personzentrierte Ansatz - in der Tradition der dialogischen Philosophie stehend - als die „relationale“ Dimension des Menschen; - den Hinweis also, dass der Mensch nur von seinen Beziehungen her verstehbar wird, aus den Partnerschaften, seinem Weltbezug, von seiner fundamentalen Angewiesenheit auf Andere und Anderes hin. Neben der hier klar erkennbaren Verwandtschaft zu systemischen Konzepten der Person, ist hier also eine Gegenposition zu solipsistisch anmutenden Modellen formuliert, wie sie nach wie vor zu finden sind(7). Ohne Überschreitungen, Herausforderungen und damit verbundenen „Unbehaustheiten“ aber, die uns von „zuhause“ wegführen und uns auf noch „unbetretenes" Terrain treffen lassen, kann sich niemals - das zeigen schon die entwicklungspsychologischen Befunde der frühestens Kindheitstage - Persönlichkeit entwickeln. Erst in und durch die Beziehungen zu anderen und anderem verwirklicht der Mensch sein Person-Sein.

Die Philosophin Karen Joisten sieht - ausgehend von solcher Dialektik - den Menschen als „Heim-Weg“. „Versteht man den Menschen buchstäblich als ‚ausgespannt‘ zwischen einem Heimischen und einem Unheimischen, das heißt als Wesen, dem die Möglichkeit eines wahren Wohnens und eines Gehens eingeboren ist, dann kann man ihn als Heim-Weg fassen. […] Die Wendung ‚Heim-Weg‘ bringt die Doppelstruktur des Menschen zum Vorschein. Das heißt sie verweist darauf, dass der Mensch aus zwei Strukturelementen besteht, nämlich einem heimischen und einem weghaften, die untrennbar zusammengehören.“ (Joisten, 2007, 43) Fokussiert man die „weghafte“ und damit relationale Seite des Menschen, dann „[…] zeigt es sich, dass er strukturell Unsicherheit, Wagnis, Risiko und Krise ist. Auf keinem Standpunkt kann er ‚ewig‘ beharren, keine Haltung kann dauerhaft eingenommen werden. So fordert das Weghafte des Menschen immer wieder ein Entscheiden und Wählen, das heißt es fordert den Menschen dazu auf, sich den Herausforderungen zu stellen, die durch das Fremde, Andere und Neue an ihn ergehen.“ (ebenda, 44) Neben der fundamentalen Vermessung des Menschenwesens ist hier auch eine sehr konkrete psychologische Beobachtung angesprochen, die wohl jede/r nachvollziehen kann: Nur die Distanz und damit das „Weggehen“ im prinzipiellen Sinn, verändert den Blick auf das Vertraute und eröffnet Neues. Die Reflexion des Selbstverständlichen erbringt immer und unvermeidbar Alternativen. Wie sehr sich dadurch auch Heimatbezüge fundamental verändern können, zeigt die Geschichte der modernen Weltraumfahrt. Schon das erste Foto des Planeten Erde aus der Distanz im All rechtfertigt vermutlich die enormen Aufwände; - entstand doch alleine schon durch dieses eine Bild eine Art Heimatstiftung im Kosmos und damit eine vermutlich unabdingbare Voraussetzung für ein ökologisches Bewusstsein, das uns als Spezies vielleicht noch retten kann.

Was aber, wenn das unermüdliche Pendeln zwischen den beiden hier nur kurz skizzierten Wesensseiten aufgrund gesellschaftsweiter Dynamiken in eine Schieflage gerät, indem die Herausforderungen zunehmend übermächtig ein ständiges „Unterwegs-sein-Müssen“ verlangen und damit der „Weg“ beginnt so beschwerlich zu werden, dass damit die zweite Seite, nämlich das „Heim“ mit ebensolcher Übermächtigkeit sich zu einem Sehnsuchtsort vergrößert, der kaum mehr überschaubar ist. Die daraus sich ergebende Orientierungslosigkeit macht anfällig für schon mehrfach erfolgreich angewandte Verführungen in äußerst gefährliche Gegenden. Die von dort aus sich ergebenden Perspektiven befördern eine Weltanschauung, die das Fremde und die damit verbundenen Beunruhigungen nur mehr als bedrohlich wahrnehmen kann und blind wird für das darin bestehende Entwicklungspotential. Statt Aufgeschlossenheit zu riskieren wird Abgeschlossenheit angstvoll und dementsprechend vehement gefordert.

In diesen Zerrissenheiten ist die von Peter Sloterdijk (2016) so benannte „kognitive Tragödie der Moderne“ angesprochen, die sich darin ausdrückt, dass die Menschheit in ihrer Mehrzahl eine Art „gleichgewichtssuchende Sehnsucht“ entwickelt, indem sie Symmetrie, Stabilität und damit gewissheitsspendende „Heimat“ zwar zunehmend verzweifelt sucht, gleichzeitig aber durch die sich global ausbreitende Lebensform systematisch vieles unternommen wird, was diese Utopie zunehmend zur nie realisierbaren Illusion werden lässt(8). Sloterdijk (2014) weist in einem Gespräch sinngemäß darauf hin, dass die hier genannten Begriffe wie „Symmetrie“, „Stabilität“, „Gewissheit“ und eine daraus resultierende Heimatsehnsucht in einem Schlüsselwort der Gegenwart zusammengerafft werden können: „Sicherheit“. In diesem so prominent gewordenen Begriff kumulieren die zentralen Aspekte der Stabilitätssehnsüchte einer mobilisierten und globalisierten Menschheit, die doch im Moment - so scheint es - unaufhaltsam alles tut, um genau diese Sicherheit massiv zu gefährden. Diese Dynamiken erzeugen eine (politisch) unheilvolle Bereitschaft jede noch so absurde Sicherheitsideologie attraktiv zu finden. In unserem hier behandelten Zusammenhang ist dabei besonders jene Spielart bedeutsam, die eine solche „Sicherheit“ in den engen Grenzen einer womöglich national verfassten „Heimat“ verspricht. Ein Versprechen, das angesichts der unwiderruflich entstandenen Globalisierung tatsächlich absurd ist. „Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?“, - diese von Rüdiger Safranski in seinem gleichnamigen Buch aufgeworfene Frage, findet in der hier behandelten Dialektik eine überzeugende Antwort. Die täglichen Herausforderungen in Hinsicht auf Mobilität und Weltoffenheit müssen durch eine individuell ausgestaltete Verortung und Beheimatung im umfassenden Sinn eine Ausbalancierung finden. Es lässt sich zwar global kommunizieren und reisen, global wohnen aber können wir nicht. Menschen brauchen eine ausreichende Ortsfestigkeit und es scheint der Grundsatz zu gelten, dass je mehr eine emotional gesättigte Beheimatung gegeben ist, desto ausgeprägter die Fähigkeit und Bereitschaft zur Weltoffenheit und Diversität sich entfalten kann. Der ohnehin illusionär bleibende Versuch angesichts weltweiter „Dynaxität“(9) und daraus resultierendem Unbehagen ein kollektives Heil in einer ideologisierten Heimat zu finden, ergibt keine Lösungen, sondern verschärft das Problem. Die solcherart entstehende Exklusionsdynamik, die sich daraus folgelogisch in einer global mobilisierten Menschheit ergeben muss, fördert zunehmend tödlich werdende Konflikte, potenziert damit die erlebte Bedrohung der Sicherheit und vertieft bei den dann zu „Anderen“ gewordenen Mitmenschen deren Sehnsüchte nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Gerade die „Heimat“ wird in diesem Zusammenhang dann zu einer Sehnsuchtslandschaft der Bedürfnisse und damit verbundener Gefühle. Entwicklungsprozesse und -ergebnisse der eigenen spezifischen Biografie mit daran anknüpfenden Utopien(10) bei uns allen, die aktuell gegebene soziale und lokale Verortung „der Einen“, die (welt-)politisch sich ergebenden Umstände und die daraus resultierenden so zahlreich erlittenen, konkreten Heimatverluste „der Anderen“ ergeben eine explosive Konfliktdynamik zwischen und innerhalb dieser Gruppen. Völlig unbemerkt bleibt dabei, dass sich bei genauerer Betrachtung eine Problem- und Schicksalsgemeinschaft aller in Hinsicht auf die erlebte Heimatlosigkeit ergibt, die sich nur in ihrer Spielart unterscheidet. Die dahinter liegenden zutiefst menschlichen Bedürfnisse, die wir über alle Kulturen hinweg teilen, werden übersehen und so eine tiefe Solidarität verhindert.

„Heimat“ als Spannungsfeld fundamentaler Bedürfnisse der Person

Nicht nur die oben kurz skizzierte wechselhafte Begriffsgeschichte, auch die empirischen Befunde einer in Ansätzen vorliegenden „Heimatpsychologie“ zeigen, dass hinter der so vielfach festgestellten, unhintergehbaren Aufgespanntheit des Menschen zwischen Sicherheitswünschen und Entwicklungsstreben eine wesensmäßig eingeschriebene Bedürfnisstruktur wirkt, die sich besonders deutlich auf dem Gelände der Sehnsuchtslandschaft „Heimat“ finden lässt. Die hier angesprochenen psychologischen Befunde zeigen eine Verbindung von Heimat mit drei grundlegenden Bedürfnissen, und zwar dem Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung (sense of community), dem Bedürfnis nach Sinnstiftung, Vertrautheit, Gewissheiten, Selbstartikulation und identitätsermöglichenden Erzählungen (sense of coherence) und dem Bedürfnis nach Beeinflussung, Verantwortung und Gestaltung (sense of control)(11) . Unschwer lässt sich in diesen Formulierungen der Einfluss des vermutlich prominentesten Modells menschlicher Motivation erkennen, wie sie im Kontext der Humanistischen Psychologie beschrieben wurde. Die berühmte „Bedürfnispyramide“ von Abraham Maslow (1981) beschreibt nicht nur die elementaren und überlebensnotwendigen Grundbedürfnisse, in deren unmittelbarer Nähe Sicherheits- und Schutzbedürfnisse sowie die grundlegenden sozialen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit zu finden sind, sondern auch die Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und Transzendenz, die uns dazu antreiben - bei ausreichender Sättigung der Bedürfnisse, die (zumindest teilweise) auch am Sehnsuchtsort „Heimat“ gefunden werden kann - schließlich uns selbst auch zu überschreiten und dazu motivieren uns „auf den Weg“ zu machen. Um hier noch einmal Karen Joisten (2007, 40) zu zitieren: „Wendet man sich dem Phänomen ’Heimat’ vorurteilsfrei zu, tritt mit ihm Wesentliches, nämlich das Wesen des Menschen selbst, zum Vorschein. Weder ausschließlich wohnend noch ausschließlich gehend, lässt der Mensch sich geradezu als ein ‚Zwischen‘ fassen, das sein Leben lang gezwungen ist, zwischen seinem Heim und seinen Wegen zu pendeln.“

Heimat - Fluchtort bei bedrohter „Sicherheit“

Betrachtet man nun die hier betroffenen Bedürfnisse im einzelnen, wird deutlich, dass sich tatsächlich eine Schieflage feststellen lässt. Wie schon oben ausgeführt, wird gerade das den elementarsten, physiologischen Grundbedürfnissen nächstgelegene Sicherheitsstreben, zur Zeit als enorm bedroht erlebt und rückt solcherart in großen Bevölkerungsteilen sehr in den Vordergrund. Das ist nicht besonders verwunderlich, läuft doch - mittlerweile für uns alle klar und alltäglich erkennbar - die Wirtschaft schon seit langer Zeit geradezu Amok und folgt, völlig unbeeindruckt von katastrophalen Auswirkungen und darauf aufbauenden Prognosen, gestützt auf neoliberale Beschwörungsformeln und Selbsteinredungen, einem sowohl ökologischen wie auch ökonomischen Selbstauslöschungsprogramm auf globaler Ebene. Zusätzlich zu diesen sehr realen Sicherheitsbedrohungen wird dann, vor Hintergrund politischer Interessen, mit „phobokratischen Methoden“ (Sloterdijk 2013, 370) versucht, eine Art Angstherrschaft zu errichten. Das im Moment dafür erfolgreichste Rezept besteht im permanenten Schüren von Ängsten gegenüber allen „Fremden“. Solche Ängste sind umso bedrängender, je weniger sich das Fremde begreifen lässt. Dieser Verstehensmangel, der in Hinsicht auf flüchtende Menschen mit Empathieverlust einhergeht, wird vielfältig forciert. Hier sind die Geschwindigkeit und das Ausmaß zu nennen, mit der sich die Konfrontation mit dem Fremden aufdrängt. „Wir kommen nicht um die Feststellung herum, dass das massive und plötzliche Erscheinen von Fremden auf unseren Straßen weder von uns verursacht wurde noch unter unserer Kontrolle steht. Niemand hat uns gefragt, und niemand hat uns um unsere Einwilligung gebeten. Kein Wunder, dass die neu eintreffenden Flüchtlinge (um es mit Berthold Brecht zu sagen) als ‚Boten des Unglücks‘ empfunden werden. Sie verkörpern den Zusammenbruch der Ordnung (was immer wir unter ‚Ordnung‘ verstehen mögen: einen Zustand, in dem die Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen stabil, also verständlich und vorhersagbar sind, so dass diejenigen, die darin leben, wissen, wie sie sich zu verhalten haben); den Zusammenbruch einer Ordnung, die ihre Bindungskraft verloren hat. […]

Die Immigranten bringen, wie Jonathan Rutherford(12) es so treffend formuliert hat, ’die schlechten Nachrichten aus einem fernen Winkel der Erde direkt vor unsere Haustüre.’“ (Baumann 2016, 20f)

Selbstverständlich sind hier auch die Medien zu nennen, die das ihre dazu beitragen, dass die Welt zunehmend als unheimlich und damit unheimatlich empfunden wird. Rüdiger Sanfranski (2015) trifft in diesem Zusammenhang eine interessante Unterscheidung: Die Reichweite unserer Sinne wird durch die „Medienprothesen“ künstlich enorm erweitert, die Inhalte und Aussagen von Nachrichten und Bildern sind durchgängig negativ und dabei ist dieser „Sinnenkreis“ vom davon zu unterscheidenden „Handlungskreis“ (im Sinne der Reichweite des vom Einzelnen verantworteten Handelns) sehr weit abgelöst. Die medial alltäglich produzierte Angsterregung kann nicht mehr in Handlung umgesetzt und abgeleitet werden, dadurch potenziert sich die Furcht vor der herannahenden Fremde. Eine häufige Reaktion auf den drohenden Bodenverlust führt in eine „forcierte Bodenständigkeit, die sich in diversen Formen des Nationalismus und Provinzialismus niederschlägt [...]...die Heimat wird zum Idyll. Man fühlt sich dort, wo man ist, im Eigenen, fest verwurzelt wie ein Baum; vielfach verteidigt man, was man nie besaß […]“ und klammert sich an einen Heimatort „[…] So entstehen Bollwerke des Eigenen, die kein Außen kennen, es sei denn als Feind.“ (Waldenfels, 2007, 26)

Ein erst kürzlich aufgetauchter Neologismus bringt dabei den Prozess der politischen Instrumentalisierung von Massenängsten präzise auf den Punkt; - eine „securitization“, übersetzbar am ehesten mit „Versicherheitlichung“ (Baumann 2016, 28), bezeichnet die immer häufigere Subsumption von etwas, was bisher einer anderen Gruppe von Phänomenen zugeordnet wurde, unter die Kategorie der Unsicherheit. Diese Form der von der Politik betriebenen Neuklassifizierung ergibt eine enorme Ausweitung der Zuständigkeitsbereiche von Sicherheitsorganen. Daraus resultierende Aktivitäten des Sicherheitsapparats, wie bspw. polizeiliche Aufrüstung, eindrucksvoll medial vermittelte Eingriffe in die Privatsphäre von Verdächtigten, gewaltvoll aufgelöste Versammlungen u. dgl., demonstrieren die Entschlossenheit und Tatkraft der Machtträger und suggerieren, dass man die Probleme „im Griff hat“ und sie durch staatliche Gewalt zu lösen sind. „Schließlich garantieren diese […] Bilder eine Atmosphäre des Staatsnotstands, des vor den Toren stehenden Feindes, der Komplotte und der Verschwörungen - insgesamt also das Gefühl, das Land und damit auch unser Zuhause schwebten in tödlicher Gefahr. Die Bilder sollen ‚die da oben‘ fest in ihrer Rolle als (dem einzigen, unersetzlichen?) Schutzschild etablieren, welches das Land und das Heim vor fürchterlichen Katastrophen zu bewahren vermag.“ (ebenda, 31)

Die von der aktuellen „Migrationskrise“ und von der gezielt geförderten Migrationspanik geschaffenen Probleme sind naturgemäß äußerst komplex. Die teilweise geradezu überbordende Angst angesichts der Fremden, die offensichtlich nicht mehr verstehbare Gefahren mit sich bringen, tritt in Konflikt mit ethischen Zwickmühlen, die sich durch den jetzt direkt vor den Haustüren sich aufdrängenden Anblick menschlichen Elends auftun. Sehnsucht Gemeinschaft Identität

Überdeckt die Angst dann die Fähigkeit zur Empathie, nicht zuletzt ein Effekt zunehmender Entfremdung, dann sind plötzlich auch Menschenrechte nicht mehr für alle gültig. Die erwähnte „Versicherheitlichung“ führt folgelogisch dann zu einer „Verschiebung des Migrationsproblems aus dem Bereich der Ethik in den der Sicherheitsbedrohungen, der präventiven Verbrechensbekämpfung und der Strafverfolgung, der Verteidigung der Ordnung und letztlich des Ausnahmezustands, der gewöhnlich mit Bedrohungen durch militärische Aggression und Feindseligkeit assoziiert wird.“ (ebenda, 84) Daraus ergeben sich beinahe schon panische Fluchtbewegungen in die fiktiven Angebote stabiler und eindeutiger Sicherheitszonen, die nicht nur Geborgenheit bieten sollen, sondern auch eine klare nationale Identität versprechen. Die angstgetriggerte Suche nach vertrauter Sprache und Kultur ergibt im Moment eine eigentlich erstaunliche Renaissance des Nationalgefühls. Ein deutliches Anzeichen dafür sind die aktuellen, internationalen Krisen und Konflikte, die zum Großteil als Unabhängigkeitsbestrebungen mit ethnischen Konflikte im Hintergrund zu verstehen sind und neue oder ehemalige Nationalstaaten zum Ziel haben.

 In diesem Tatbestand zeigt sich auch das Scheitern der Versuche „Europa“ emotional als identitätsstiftenden Raum zu etablieren. Wie oben schon ausgeführt, wird Heimat sehr stark mit Unmittelbarkeit und konkreter Nähe assoziiert. Gerade Österreicher/innen, das zeigen empirische Untersuchungen, verbinden mit Heimat besonders die Schönheit der umgebenden Landschaft. Heimatgefühl und Sicherheit vermittelnde Aufgehobenheit scheint also nur in relativ überschaubaren, geografischen Gegebenheiten zu entstehen, mit der EU als „Region“ lassen sich aber in diesem konkreten Sinne nur schwer konkrete, (ver-)bindende Erfahrungen machen. Das immer wieder vorgebrachte Argument, der europäische Staatenbund sei schon alleine durch die nunmehr erreichte Größe (der Fläche, der Märkte, …) attraktiv wenn nicht sogar notwendig, gerät mit dem Bedürfnis der Beheimatung in Konflikt. Schon ein kurzer Blick auf einen Globus verdeutlicht die Berechtigung des Größenarguments. Es kann keine wirksame Politik isolierter Nationalstaaten mehr geben und ein Verzicht auf Weltpolitik schützt keinesfalls vor deren Folgen: „Amerika, Lateinamerika, China, Russland, Indien, Afrika - fette Landmassen, beeindruckende Wirtschaftsräume. Ernüchternd marginal und klein dagegen an den äußeren linken Rand gedrängt auf dieser zerklüfteten Halbinsel am Westrand der eurasischen Platte: Europa, die Länder der europäischen Union. Suchen wir unser Land: Italien, Polen, Kroatien, (Österreich), wo sind sie? Sogar Frankreich und Deutschland sind nicht gleich zu finden, Luxemburg oder Slowenien nur Stecknadelköpfchen. Unter diesem Weltbild sprechen wir über: Klimawandel, Epidemien, Ebola-Viren als Waffe, Geldströme, Finanzkrisen, […], globale Wirtschaftsunternehmen, über Konzerne wie Google, über Islamfaschisten, internationalen Terrorismus, über Armut, Hunger, Gerechtigkeit und über die fast 60 Millionen Menschen, die auf der Flucht sind. […] Ein Stecknadelköpfchen allein wird keine dieser Aufgaben lösen können.“ (Roll 2016, 16f)

Die Schutzfunktion der EU, die immer wieder vorgebracht wird, überzeugt dennoch nicht als Argument. Ökonomisch, so zeigt sich gerade aktuell(13), können weder die EU und schon gar nicht die nationalen Volkswirtschaften vor Globalisierungsnachteilen schützen(14); - und militärisch sind die Entscheidungsträger der Union weder gewillt noch autorisiert, die potentiell mögliche Schutzfunktion auszubauen, obwohl völlig klar ist, dass im Falle eine Zusammenlegung der Militärbudgets aller Nationalstaaten der EU die geopolitische Machtordnung völlig anders aussehen würde.

All dieser vorrangig rational verfassten Argumente zum Trotz, setzen sich aktuell vor Hintergrund der permanenten Angsterregung, durch mittlerweile europaweit vorfindbare, zumeist rechtspopulistische Parteien und deren Parolen, Sehnsüchte nach überschaubaren Heimatzonen in nationaler Begrenzung durch. Auch wenn es völlig irrational ist, die Abschottung als eine Lösung verkaufen zu wollen (und sei es sehr konkret durch „sicherheitstechnische Einrichtungen“, „physische Barrieren“ oder „Türen mit Seitenteilen“ um nur einige absurde Euphemismen zu nennen, die in politischen Diskussionen tatsächlich auftauchten), - das Einmauern wird von einer politisch relevanten Anzahl von Bürger/innen offenkundig als Alternative gesehen.

Zusätzlich wird diese angstgesteuerte Heimatsehnsucht noch durch ein zweites, fundamentales Grundbedürfnis aufgeladen, den zutiefst menschlichen Wunsch nach Zugehörigkeit.

Heimat - Projektionsfläche für Gemeinschaftssehnsucht

Abraham Maslow identifizierte in seiner Motivationstheorie als die dritte Motivklasse die Zugehörigkeits- und Liebesbedürfnisse des Menschen und als vierte Stufe schließlich die Wünsche nach sozialer Anerkennung, Status, Respekt, sozialem Einfluss u. dgl. Das weniger bekannte, darauf aufbauende Modell von Max-Neef (1991), mit insgesamt 10 voneinander unterschiedenen Grundbedürfnissen(15), formuliert in diesem Zusammenhang drei ähnliche Motivkräfte: „Zuneigung“ (zu anderen Menschen); „Identität“ (der Wunsch zu wissen, wo man hingehört und wodurch man sich von anderen unterscheidet) und „Teilhabe“ (als Wunsch nach politischer, sozialer und kultureller Mitbestimmung in der Welt, in der wir leben).

Heimat und Zugehörigkeit zu GruppeDie hier angesprochenen Bedürfnisse sind von überlebensnotwendiger Bedeutung, was auch ihre historische Entstehungsgeschichte zeigt. Es ist zu vermuten, dass schon durch die Tatsache, dass der Mensch als Spezies für unwirtliche Umgebungsbedingungen im Vergleich zu einer Vielzahl anderer Lebewesen auf diesem Planeten relativ dürftig ausgestattet ist, die Gruppe als Überlebenseinheit bedeutsam machte. Der evolutionäre Erfolg ergab sich für uns als Spezies, das zeigt eine zunehmende Anzahl von Befunden, durch die evolutionär entwickelten Fähigkeiten zur Kooperation. Menschliche Nähe und Vertrautheit sind bis heute die besten Lösungen bei massiven Gefährdungen der Existenz, bei Umweltbedrohungen und bei einer Infragestellung der einzelnen Identität. Die von Beginn des Lebens an gegebene Tatsache der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ließ uns ein „Wir-Gefühl“ entwickeln, das sich am Beginn der Menschheitsgeschichte vermutlich nur auf Kleingruppen bezog(16). Erst im 19. Jahrhundert hat sich dann in unseren westlichen Gesellschaften auf Basis verschiedener Entwicklungen ein derartiges „Wir-Gefühl“ nicht nur auf erste tribale Einheiten, den eigenen Stamm oder ein Fürstentum sondern auf ganze Nationen(17) erstrecken können.

Ausgehend von der These, dass jede Abhängigkeit herrschaftsanfällig macht, wird schnell klar, dass, indem eines unserer fundamentalsten Bedürfnisse als ein Beziehungsbegehren zu verstehen ist, jeder Mensch an genau dieser Stelle besonders empfänglich für manipulative Manöver wird. Unschwer lassen sich viele Beispiele finden, die zeigen, dass Menschen fast jeden ideologischen Preis bezahlen, um zu einer für sie attraktiven Gruppe zu gehören.

„Der Mensch ist unheilbar sozial“, mit dieser Formulierung markierte Carl Rogers (1965, 20) einen entwicklungspsychologisch eindeutigen Befund und wies damit auf eine anthropologische Konstante hin. Menschen werden in Gruppen sozialisiert, wir werden in eine Familie hineingeboren und können unsere Identität nur aus primären Beziehungsgeflechten heraus entwickeln. Mensch kann man nur im Verein mit anderen Menschen sein. Diese soziale Beziehungsanwiesenheit ergibt eine grundsätzliche Abhängigkeit. Damit wird eine Möglichkeit eröffnet Herrschaft von Menschen über Menschen subtil zu etablieren.

Für solche Absichten im Sinne des Aufbaus und Erhalt von Macht eignet sich der Heimatbegriff vorzüglich. Schon ein kurzer Blick auf (historische wie auch aktuelle) Wahlbewegungen und dafür geschaffene Werbesujets zeigt klar, dass im Funktionsbereich der Politik dieser Begriff andauernd benutzt wird, um emotionale Bindungen zum jeweiligen Herrschaftssystem herzustellen. „Heimat“ weist ein hohes Potential an Integrationsfähigkeit auf, um zur Identifikation der Einzelnen mit dem Staat beizutragen. „Die Essenz aller nationalistischen Propaganda besteht […] (dabei) darin, die staatlichen Maßnahmen zur Disziplinierung und Vereinheitlichung der Bevölkerung als Bewahrung und Vertiefung ihres angestammten Volkscharakters auszugeben. Ohne ein Mindestmaß solcher Propaganda ist die Bevölkerung eines Staates kaum in der Lage, sich als Nation zu fühlen. […] Diese Propaganda funktioniert deshalb so gut, weil sie ihren Adressaten die Brust schwellt. Sie bläst den heimatlichen Erfahrungsraum buchstäblich zu etwas Größerem auf und erhebt die Einzelnen zu einer höheren Gemeinsamkeit mit etwas, was sie zwar in der äußeren Realität nie erlebt haben, weil es sich gar nicht erleben lässt, dafür aber innerlich um so heftiger zu fühlen glauben.“ (Türcke 2015, 42f)

Solche Identifikationsprozesse können die vermutlich beinahe jedem und jeder vertraute Rührung erklären, die mitunter bis zu Tränen der Ergriffenheit führt, wenn durch entsprechende Rituale (wie bspw. das Singen der Nationalhymne) ein Gemeinschaftsgefühl empfunden wird, dass es sonst nicht gibt. Diese intensive Gefühlsregung entsteht genau durch die momenthafte Schein(!)-Erfüllung einer tiefen Sehnsucht nach vollkommenen Eingebettetsein in die Gemeinschaft, als eine endlich erreichte Erlösung aus dem alltäglich so quälend empfundenen Anders- und Getrenntsein. (Vgl. dazu Hirsch, 1992, 19)

Auch die Verführungskünste der Marketingabteilungen von Wirtschaftsunternehmen setzen mit besonderer Vorliebe genau an diesem zunehmend „ungesättigt“ bleibenden Bedürfnissen nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft und also „Heimat“ an. Ständig werden das so grundlegend bestimmende Beziehungsbegehren in ein Produktbegehren übersetzt und damit nicht bloße Gebrauchsgegenstände verkauft, sondern die Hoffnung auf bedeutsame Beziehungsresonanzen.

Wie deutlich werden sollte, kann die „Heimat“, im traditionellen Sinne als nationales Verhältnis verstanden, schon prinzipiell nie die Überfrachtung durch Sicherheits- und Gemeinschaftsbedürfnisse tragen; - weder wird die Flucht gelingen und sich Geborgenheit als nachhaltiges Gefühl einstellen, noch wird die Gemeinschaftssuche an solchen „Orten“ tatsächlich die Zugehörigkeit ergeben, die ersehnt wird. So bleiben, der Grundidee der Motivationstheorie von Abraham Maslow folgend, zumindest zwei sehr grundlegende Bedürfnisse habituell unbefriedigt und damit vormächtig, was ein Voranschreiten in Richtung auf „höhere“ Bedürfnisebenen blockiert. Die vermutbaren Auswirkungen auf die Entwicklung von Persönlichkeiten muss sich auch auf einer gesellschaftlichen Ebene bemerkbar machen.

Die Herrschaft des Vertrauten macht alle arm

Versteht man die „Person“ als einen lebenslangen Entwicklungsprozess, könnte man in dialektischer Spannung zur Frage „Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch?“ (Safranski 2003), genau so berechtigt fragen: „Wieviel Gewissheiten verträgt die Person?“ Ich möchte hier die Vermutung wagen, dass bei einer im Moment so fragil gewordenen „Sättigung“ von Sicherheits- und Gemeinschaftsbedürfnissen, die noch dazu (siehe oben) so häufig an den falschen Orten gesucht wird, der entwicklungsförderliche Aufbruch „in die Fremde“ oder „auf den Fremden hin“ (beides in einem sehr fundamentalen Sinn gemeint) nicht mehr wirklich verlockend ist. Das Bedürfnis nach „Selbstverwirklichung“, wie von Maslow vielfältig beschrieben, wird nur wenig verhaltenswirksam und bedeutende Entwicklungspotentiale der Person liegen brach.

Verbraucht doch ein durch die permanenten Anforderungen der Mobilisierung, Beschleunigung und (Selbst-)Optimierung erschöpftes Selbst(18) schon alle Kräfte dafür, nur den endlich erreichten Stand zu sichern. Man könnte sich hier der von Hartmut Rosa (2013) so eindrucksvoll entwickelten Metapher bedienen, in der beschrieben wird, dass wir im spätmodernen und neoliberal verfassten Kapitalismus zunehmend zu einem Bewegungsmuster angetrieben sind, das an einen Bergwanderer erinnert, der den Absturz verhindernd versucht auf einem ihm entgegenkommenden rutschenden Abhang sich zu halten oder gar, nach oben zu gelangen. Ein „rasender Stillstand“ (Virilio 1997) hat uns erfasst, der kein positives Ziel mehr verfolgt, sondern nur mehr versucht die Katastrophe abzuwenden. Nicht nur die hoffnungslos immer zu spät kommende Politik erschöpft sich nur mehr in einem versuchten Krisenmanagement und verfolgt solcherart keine politischen Utopien mehr, auch die einzelnen Personen scheitern zunehmend daran, den Lebensentwurf zu verwirklichen, den sie sich „eigentlich“ gewünscht hätten. Diese hier angesprochenen Prozesse, die man als mittlerweile global anzutreffende „Sozialpathologien“ bezeichnen könnte, münden in eine prinzipielle Beziehung zur Welt, die „[…] unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen und zur Gesellschaft (zur sozialen Welt), zu Raum und Zeit sowie zur Natur und zur Welt unbelebter Objekte (zur objektiven Welt) und schließlich zu den Formen menschlicher Subjektivität (zur subjektiven Welt) und unserem ‚In-der-Welt-Sein‘ als solchem“ (Rosa 2013, 60) prägt und treffend als „Entfremdung“ zu charakterisieren ist. Wie oben schon mehrfach ausgeführt, wird damit auch „Heimat“ im Sinne einer „selbstverständlich“ und als vertraut empfundenen Umgebung unerreichbar und gerade deswegen aber permanent gesucht.

Wird Heimat (im umfassenden Sinne) dann aber nie befriedigend gefunden, dann kann die Fremde (noch) nicht verlockend sein. Es werden dann die glücklichen Momente rar, in denen „wir vielleicht sogar die Empfindung (haben), die Welt als Ganzes mit all ihren Möglichkeiten, Herausforderungen und Geheimnissen sei so eng mit uns verwoben, dass sie uns geradezu als eine ‚singende‘ Welt erscheint.“ (Rosa 2007, 13)

Wird die hier angesprochene „Resonanz“ (Rosa 2016), (so der von Hartmut Rosa präferierte Begriff für die Fähigkeit des Menschen sich Fremdes (andere Personen, Kulturen, Dinge, Umgebungen, Natur,…) durch achtsame Beschäftigung im Rahmen dafür ausreichender Zeitfenster „anzuverwandeln“), als Erfahrung seltener und für manchen gar unerreichbar, dann ist eine psychische Befindlichkeit - genauer ein Modus des Selbst- und Fremdbezugs - im Fokus, der in den Bereich psychopathologischer Beschreibungen verweist. „Inkongruenz“ (Rogers 1959, 29f), so ein zentraler Begriff personzentrierter Therapietheorie, beschreibt genau diesen Zustand der Selbst- und damit Weltentfremdung.

Die Entwicklungspsychologie, wie sie im Kontext des Personzentrierten Ansatzes ausgehend von empirischer Forschung formuliert wurde, beschreibt sehr genau, wie ein solches Selbstverhältnis in und durch die Interaktion mit bedeutsamen Anderen in den frühen Lebensjahren entsteht. Bedeutsam ist dabei im hier behandelten Zusammenhang, dass die seitens der bedeutsamen Bezugspersonen nie oder nur teilweise oder nur verzerrt verstandenen eigenen inneren („organismischen“) Reaktionen und Erfahrungen des Kleinkindes nicht adäquat in einen Bezug zum eigenen „Selbst“ gesetzt werden können. Solche eigenen Erfahrungen (insbes. Affekte), die entweder nicht wahrgenommen oder zwar wahrgenommen aber nicht als solche vollständig anerkannt und akzeptiert wurden, bleiben „fremd“ und ergeben, - ausgehend vom prinzipiellen Bedürfnis der Person affektive Erfahrungen im eigenen Kommunikationsverhalten dennoch auszudrücken -, eine (nicht notwendig voll bewusste) Spannung, eine „Inkongruenz“.

In unseren gesellschaftlichen Verhältnissen verfügt jeder Mensch über solche nicht assimilierten Selbstanteile und nur die eigene Fähigkeit sich ausreichend wertschätzend diesen Selbstimpulsen und -erfahrungen zuzuwenden, ergibt die Möglichkeit der gelingenden Integration, die man dann auch als eine signifikante persönliche Wachstumserfahrung erlebt(19). „Strukturgebundenes Erleben“, im Sinne des Unvermögens sich neuen, vielleicht überraschenden und damit als „fremd“ erlebten Selbsterfahrungen auf andere als bisher „gewohnte“ Weise einzulassen, verhindert das Erforschen bisher unbetretenen Geländes und blockiert damit den herausfordernden Aufbruch in die Fremde, das „Auf-den-Weg-Machen“. Ängstliches Beharren in der dann tatsächlich „unheimlich“ bleibenden und als beengend erfahrenen inneren „Heimat“ ist die Folge.

Unschwer wird in diesen Formulierungen schon deutlich, dass solche Dynamiken auch in gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere im Umgang mit den „Fremden“, mit Diversität ganz allgemein einen Niederschlag finden werden. Der Hinweis, dass der Umgang mit den Fremden in uns selbst den Umgang mit den Fremden in unseren sozialen Verhältnissen bestimmt, wurde schon vielfach - in erster Linie von Psychoanalytiker/innen - entfaltet. Es sind hier insbesondere die Abwehrmechanismen zu nennen(20), die sehr plausibel die Verzahnung von innerpsychischen Prozessen mit sozialen Beziehungsdynamiken erklären. Um hier ein Beispiel zu zitieren, das unsere Fragestellungen im hier gegebenen Zusammenhang berührt: „Jede Form von Identität und Zugehörigkeit (z.B. Partnerschaft, Familie, Berufsgruppe, Sportverein etc.) ist immer auch(!) Abwehrmaßnahme gegen das Aufkeimen von Fremdheitsgefühlen. Ad absurdum geführt wird das Bedürfnis nach Zugehörigkeit gerade in Zeiten der Identitätsunsicherheit durch die Phantasie einer Gruppe, etwas Besonderes zu sein, was eine scharfe Abgrenzung gegen die anderen, die Fremden notwendig macht. Bohleber (1992) spricht vom ‚Phantasma’ der Nation, von der Phantasie ihrer Homogenität, von der ‚Homogenisierung’ ihrer Mitglieder […] als Versuch der Orientierung, um Ängste abzuwehren.“ (Hirsch 1993, 18) „Die Abgrenzung vom Fremden soll dabei aber nicht nur die Entstehung eigener Fremdheitsgefühle verhindern, sondern dient auch als Voraussetzung für die Projektionen eigener, abgespaltener und damit „fremd“ bleibender Selbstanteile, derer man sich nicht bewusst werden möchte, weil dann eine Reorganisation des Selbst die Folge sein müsste. „Dies sind natürlich Gefühle, klein, schlecht und minderwertig zu sein, selbst nicht dazuzugehören, alles verlieren zu können etc. Nach bekanntem Sündenbockmechanismus wird im Anderen das verpönte Eigene bekämpft und ausgegrenzt, als könne man es so loswerden. Erdheim (1992) macht darauf aufmerksam, dass nicht nur das Eigene (schlechte) auf den Fremden projiziert, sondern auch die Bilder der Liebesobjekte als ‚gut‘ erhalten bleiben, wenn deren ‚schlechte‘ Anteile nach außen projiziert werden. Wie im Märchen: Nicht die Mutter hat böse Anteile, die Stiefmutter ist es, die Fremde also. Bohleber (1992) beschreibt ähnlich die Projektion als Mittel der Idealisierung und Homogenisierung der ‚Nation‘, mit der man sich umso mehr präambivalent verschmolzen fühlen kann, je mehr das Böse abgespalten im Fremden projektiv gefunden wird.“ (Hirsch 1993, 21)

„Introjekte“ wirken eben wie Fremdkörper, die vom Erleben, Denken, Phantasieren und Sprechen abgetrennt das Verhalten wie ein fremdes Programm steuern. Die „Herrschaft des Vertrauten“ hier im Sinne bewährter Formen der Angstabwehr verstanden, hemmt die Entwicklung von Person und Gesellschaft und macht damit dann tatsächlich „alle arm“.

Heimat als Sehnsucht - Gesellschaft als Herausforderung

Nach der jetzt dargestellten Verlustanzeige (siehe Einleitung), die an nicht wenigen Stellen Gefahrenmomente ergibt, gilt es nun zu fragen, was denn unternommen werden könnte. An einigen Stellen des Beitrags sollten implizit schon Ansätze zu finden sein. Der vielleicht wesentlichste Befund ist wohl der, dass die verschiedenen Bedürfnisse, die sich rund um diesen so belasteten Begriff der „Heimat“ tummeln, keineswegs als nur romantisierende und regressive Gefühle verachtet werden sollten. Die Bedürfnisse ergeben sich aus den oben skizzierten anthropologischen Konstanten und sind also dem Menschen wesenhaft eingeschrieben. Wird die Erfüllung dieser Bedürfnisse - in erster Linie durch gesamtgesellschaftliche Dynamiken - zunehmend erschwert, ergeben sich (durch mannigfaltige Verführung) Strategien der Bedürfniserfüllung, die sich tatsächlich verheerend auswirken können.

So gerät als erste prinzipielle Lösung die Person in den Blick. Heimat in uns selbst

Nur wenn es uns gelingt, eine Beheimatung in uns selbst größtmöglich entwickeln zu können, sind wir vor den skizzierten Scheinlösungen und den daraus resultierenden Gefahren einigermaßen sicher. Dabei gilt es gleich eine Abgrenzung zu markieren. Keineswegs ist damit ein womöglich solipsistisch anmutender Rückzug auf das Ich gemeint. Die berühmte „Ich-AG“, die sich als Zufluchtsort vielleicht auch aus der gestiegenen Impermanenz von Wir-Beziehungen ergeben könnte ist damit genau nicht gemeint(21). Vielmehr ist damit ein bewusster Prozess der Persönlichkeitsentwicklung angesprochen, indem man sich der eigenen Person in einer Weise zuwendet, die sich auch dem eigenen, inneren „Fremden“ stellt. Damit ist nicht weniger gefordert, als sich selbst zu begegnen, sich vom eigenen Fremden herausfordern zu lassen und also sich selbst als Herausforderung zu begreifen. Carl Rogers formuliert als einen typischen Effekt erfolgreich verlaufender Psychotherapie sogar: „Das Individuum wird so sein eigenes signifikantes soziales Gegenüber.“ (Rogers 1959, 36)

Immer wieder, so könnte man als Aufgabe formulieren, geht es darum, sich dem Idealbild einer psychisch gesunden Person anzunähern, im Bewusstsein, dass es nie für immer erreichbar sein kann - ganz analog dem, was von der Heimat so oft beschrieben wurde. Um eine Suchrichtung zu beschreiben, hat Rogers sinngemäß ein (als prozesshaft zu verstehendes Zielbild) wie folgt formuliert:

  1. „Eine solche Person kann alle ihre jeweils aktuellen und daher ständig neuen Erfahrungen machen, die Welt und sich selbst in der Reaktion auf sie im Hier und Jetzt wahrnehmen;
  2. sie kann sich ihrer Erfahrung bewusst zuwenden und sie im Bewusstsein halten;
  3. sie kann sich in ihr verstehen und akzeptieren;
  4. sie kann sie jeweils aktuell und neu bewerten und in Bezug auf sich selbst interpretieren;
  5. sie kann sich hinsichtlich ihrer Erfahrung mitteilen, wenn sie das will;
  6. sie fühlt sich als Autor(in) ihres Denkens und Fühlens und dementsprechend auch für sich selbst verantwortlich und kann ihre Probleme differenziert wahrnehmen;
  7. sie kann die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen;
  8. sie kann frei, offen und aufrichtig in der Beziehung zu anderen Personen sein.“ (Biermann-Ratjen 2006, 100)

Es sollte deutlich werden, dass eine solche Verfasstheit der Person eine einigermaßen solide Basis bieten würde, um gefährlichen Verführungen widerstehen zu können, eigenen verzerrten Wahrnehmungen gegenüber skeptisch bleiben zu können und solcherart die psychischen Voraussetzungen ergeben könnte, dem auch äußeren „Fremden“ angemessen zu begegnen und als Herausforderung zu begreifen. Vielleicht ließe sich tatsächlich behaupten, dass die einzige Sicherheit darin liegen kann, eine Persönlichkeit zu entwickeln, die einen befähigt auch in schlechten Zeiten zu bestehen.

Wie an manchen Stellen des Beitrags schon formuliert, ist dabei völlig klar, dass eine so verstandene „Heimatsuche“ als Aufgabe nie alleine gelingen kann. In diesem Sinne lässt sich der österreichische Schriftsteller und Pädagoge Helmut Stefan Milletich zitieren: „Heimat besteht für mich nicht aus einer alten Chronik oder aus einer Nepomukstatue, die an einer Brücke steht, die keinen Bach mehr überquert. Heimat besteht für mich aus der Möglichkeit, mich in einem mir bekannten Kreis zu verwirklichen.“ (Milletich in Bausinger 2007, 8)

Darin, so kommentiert Hermann Bausinger diese Aussage, „kommt das aktive Heimatverständnis zum Ausdruck. Heimat und offene Gesellschaft schließen sich nicht mehr aus: Heimat als Aneignung und Umbau gemeinsam mit anderen, Heimat als mitgeschaffene kleine Welt, die Verhaltenssicherheit gibt, Heimat als menschlich gestaltete Umwelt.“ (ebenda, 8) Um auch hier einem möglichen Missverständnis gleich zu begegnen, das darin bestehen könnte nun Gemeinschaft statt Gesellschaft zu propagieren und eine Flucht in eine soziale Wärmestube anzutreten, die einem die Herausforderungen und Aufgaben als Mitbürger/in einer bestimmten Gesellschaft übersehen lässt, sei nochmals zitiert: „Heimat in der Ein- wie in der Mehrzahl ist eben nicht nur ein Problem, sondern auch eine Aufgabe. Anzustreben ist ein aus Altem und Neuem, aus einheimischer Tradition und fremden Zugaben integrierte Lebenswelt, ein Milieu, in dem die vitaleren Formen des Heimatlichen kombiniert sind mit den auf ein menschliches Maß zurechtgestutzten Formen des Globalen.“ (ebenda, 10) Es geht also darum, ganz im Sinne der so häufig geforderten „Diversitätskompetenzen“ Werte der „Nahwelt“ in Balance zu bringen mit globalen Realitäten und Möglichkeiten. Integration und Inklusion sollten sehr konkret als Versuch verstanden werden, Fremde und Fremdes auch in ganz spezifische Traditionen einer Region aufzunehmen.

Schafft man es dabei, sich - in Abkehr von einem nur ortsgebundenen Heimatverständnis - eher an kulturellen und sozialen Gegebenheiten zu orientieren, diese aktiv mitzugestalten und sich dadurch den entwicklungsförderlichen Begegnungen zu stellen, dann kann eine Verortung in mehreren Milieus und damit auch an verschiedenen Plätzen gelingen. Aktiv betriebene, heimatgebende „Einwurzelung“, durchaus im Sinne der von Hartmut Rosa empfohlenen Entwicklung von möglichst weit reichender Resonanzfähigkeit, die zumindest momenthaft eine „Anverwandlung“ von Welt ermöglichen sollte, realisiert dann eine unhintergehbare Vorbedingung für pluralitätsoffene Weiterentwicklung von Persönlichkeit und Gesellschaft. Das Heimatliche in sich selbst aufzuspüren, was auch immer sich dabei als Fund ergibt, das ist vielleicht die einzige Art, sie nicht als Illusion vergeblich „draußen“ zu suchen und alle jene zu bekämpfen, die sie vermeintlich bedrohen. Vielleicht hilft auch die Erkenntnis wie auch das Bekenntnis, dass wir alle in prinzipiellem Sinne und in heutigen Verhältnissen in besonderer Weise bis zu einem gewissen Grad „heimatlos“ bleiben werden. Diese spätmoderne Heimatlosigkeit sollte als eine gemeinsam geteilte Herausforderung verstanden werden und sich so eine Solidargemeinschaft innerhalb der Generationsgenossenschaft ergeben.

Autor: Peter Frenzel www.tao.co.at

Fussnoten:

  1. Siehe dazu zB das knappe, besonders lesenswerte, weil motivierende, Statement von Evelyn Roll, 2016.
  2. Siehe dazu http://derstandard.at/2000046722023/Juncker-warnt-vor-Rechtspopulisten-Ich-moechte-gegen-diese-Kraefte-auftreten, dl: 31.10.2016, 10:45
  3. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass die Themen, die heute auf EU-Ebene verhandelt werden, vor nicht allzu langer Zeit Kriegsgründe waren.
  4. Die als gefährlich entlarvte und damit zu vermeidende Verbindung von Staat und Heimat in Richtung auf ein ethnisches Staatsverständnis wurde durch den Begriff des „Verfassungspatriotismus“ versucht zu umgehen (siehe dazu zB Habermas 1992).
  5. siehe Marcuse, H. (1966)
  6. Ersetzt man dabei „Heimat“ mit „National“ werden sehr unangenehme Assoziationen wach und deutlich.
  7. Wie beispielsweise in einem biologistisch verfassten Reduktionismus im Rahmen der aktuellen Gehirnforschung, der als neues Menschenbild eine Art „homo neurobiologicus“ forciert und zur Zeit in vielen Kontexten eine bemerkenswert aufnahmebereite Öffentlichkeit findet. Die Gehirnforschung scheint sich zunehmend als omnipräsente Auskunftswissenschaft zu etablieren.
  8. Die Frage, wie sich die spätmoderne Welt kognitiv angemessen bewohnen lässt, bleibt schon deshalb unbeantwortet, als die unterschwellige Schwärmerei vom Kreislauf, in dem nichts verloren geht und alles wieder zurückkehrt und so sich Gleichgewicht ergibt, sich eigentlich eines antiken Begriffs von „Natur“ bedient, der ins Mittelalter verweist. (Vgl. dazu Sloterdijk, 2016)
  9. Definiert als: Wechselwirkungen von gleichzeitig(!) zunehmender Dynamik und steigender Komplexität (aus "dynamics" (Dynamik) und "complexity"(Komplexität)) – siehe dazu Rieckmann, H. (1992)
  10. Siehe dazu z.B. Schlink, B. (2014)
  11. Siehe dazu z.B. Mitzscherlich, B. (1997)
  12. Rutherford, J. (2007), 60
  13. Siehe dazu die aktuellen Konflikte rund um CETA und TTIP.
  14. In einem solchen Dilemma stecken mittlerweile alle Staaten, dass sie nämlich für die wirklich großen, zunehmend global zu definierenden Aufgaben zu klein und für die „kleinen“ Aufgaben zu groß sind.
  15. Die hier nicht genannten weiteren Grundbedürfnisse sind: Subsistenz (Lebenserhalt), Schutz, Verstehen, Muße, kreatives Schaffen, Freiheit und Transzendenz.
  16. Vgl. dazu z.B. Elias, N. (1976)
  17. Zur Geschichte der „Nationen“ siehe z.B. Türcke 2015, 31ff
  18. Siehe dazu insbesondere Han, B.-C. (2010)
  19. Im Rahmen einer erfolgreich verlaufenden personzentrierten Psychotherapie, wird versucht durch ein wertschätzendes, kongruentes und einfühlsam verstehendes Beziehungsangebot des/der Therapeuten/in einen Weg des Selbstbezugs vorzuzeichnen und so ein entwicklungsförderliches Verhältnis zu sich selbst („Kongruenz“) bei den Klient/inn/en nachhaltig zu fördern.
  20. Siehe dazu insbesondere Freud, A. (1936)
  21. Man gehört zunehmend vielen Gruppen nur mehr flüchtig und oberflächlich an (womöglich auch nur virtuell im Netz) und so erscheint das einzig Permanente ein („wir-loses“) Ich zu sein, dass man dann auf Kosten relevanter Sozialbeziehungen in den Vordergrund rückt.

Literatur:

  • Améry, J (1977): Wieviel Heimat braucht der Mensch?. In: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart (Klett-Cotta) 1977, 2. Aufl. 1980
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  • Bausinger, H. (2007): Heimat? Heimat! Heimat als Aufgabe. In: Der blaue Reiter - Journal für Philosophie, Stuttgart (Omega) Ausgabe 23/1, 2007, S. 6-10
  • Biermann-Ratjen, E. (2006): Krankheitslehre der Gesprächspsychotherapie. In: Eckert, J. / Biermann-Ratjen, E. / Höger, D. (Hg.): Gesprächspsychotherapie. Lehrbuch für die Praxis, Heidelberg (Springer) 2006, S. 93-116
  • Bloch, E. (1973): Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt (Suhrkamp) 1973
  • Bohleber, W. (1992): Nationalismus, Fremdenhass und Antisemitismus. In: Psyche 46, 1992, 689-709
  • Elias, N. (1976): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt (Suhrkamp) 1976
  • Erdheim, M. (1992): Das Eigene und das Fremde. Über ethnische Identität. In: Psyche 46, 730-744
  • Frenzel, P. (2000): Der Personzentrierte Ansatz jenseits der Psychotherapie. In: Frenzel, P./Keil, W.W./Schmid, P.F./Stölzl, N. (Hg.): Klienten-/Personzentrierte Psychotherapie. Kontexte, Konzepte, Konkretisierungen, Wien (WUV Facultas) 2000, S. 362-392
  • Freud, A. (1936): Das Ich und seine Abwehrmechanismen, München (Kindler) Neuauflage 1964
  • Habermas. J. (1992): Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: (ders.): Faktizität und Geltung. Frankfurt (Suhrkamp) 1992
  • Han, B.-C. (2010): Müdigkeitsgesellschaft. Berlin (Matthes und Seitz) 2010
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  • Max-Neef, M. (1991): Human Scale Development. Conception, Application and Further Reflections. Published by the Apex Press, an imprint of the Council on International and Public Affairs, New York
  • Mitzscherlich, B. (1997): Heimat ist etwas, was ich mache: Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. Berlin (Centaurus) 1997
  • Reusch, S. (2007): Heimat (Editorial). In: Der blaue Reiter - Journal für Philosophie, Stuttgart (Omega) Ausgabe 23/1, 2007, S. 4-5
  • Rieckmann, H. (1992): Dynaxibility – oder wie „systemisches“ Management in der Praxis funktionieren kann … In: Henning, K. / Harendt, B. (1992): Methodik und Praxis der Komplexitätsbewältigung. Duncker & Humblot, Berlin 1992
  • Rogers, C.R. (1959), A theory of therapy, personality, and interpersonal relationships, as developed in the client-centered framework, in Koch, Sigmund (Hg.) Psychology, the Study of a Science. Bd. III: Formulations of the person and the social context, New York (McGraw Hill) 1959, 184-256; dt.: Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen, entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes, Köln (GwG) 1987; 2. Aufl. 1989
  • Rogers, C.R. (1965): A humanistic conception of man. In Farson, R. (Hg.). Science and human affairs (S.18–31). Palo Alto: Science and Behavior Books 1965
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  • Rosa, H. (2013): Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt (Suhrkamp) 4. Aufl. 2014
  • Rosa, H. (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin (Suhrkamp) 2016
  • Roll, E. (2016): „Wir sind Europa! Eine Streitschrift gegen den Nationalismus“, Berlin (Ullstein), 2016
  • Rutherford, J. (2007): After Identity, London (Lawrence & Wishart) 2007
  • Safranski, R. (2003): Wieviel Globalisierung verträgt der Mensch? München (Hanser) 2003
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  • Schlink, B. (2014): Heimat als Utopie, Frankfurt (Suhrkamp), 8. Aufl. 2014
  • Schmid, P.F. (2002): Die Person im Zentrum der Therapie. Zu den Identitätskriterien Personzentrierter Therapie und zur bleibenden Herausforderung von Carl Rogers an die Psychotherapie. In. PERSON - Internat. Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung, 6. Jahrgang, 1/2002 Wien (Facultas), S. 16-33
  • Sloterdijk, P. (2013): Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews, Frankfurt (Suhrkamp) 2013
  • Sloterdijk, P. (2014): Michael Kerbler im Gespräch mit Peter Sloterdijk. „Im Gespräch“ - Hörfunksendung Programm Ö1 (ORF) am 13.11.2014 (21.00 Uhr)
  • Türcke, C. (2015): Heimat - Eine Rehabilitierung, Hannover (Klampen), 2. Aufl. 2015
  • Virilio, P. (1997): Rasender Stillstand. Ein Essay, Frankfurt (Fischer) 1997
  • Waldenfels, B. (2007): Der Ort der Heimat. In: Der blaue Reiter - Journal für Philosophie, Stuttgart (Omega) Ausgabe 23/1, 2007, S. 24-28
  • Zöller, R. (2015): Was ist Heimat? Annäherung an ein Gefühl, Berlin (Ch. Links Verlag) 2015

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