TAO Unternehmensberatung

Fachbeiträge A-Z

Zur fundamentalen Bedeutung der "Gruppe" als soziale Form

Orientierungshilfen und Thesen zum Arbeitsfeld „Gruppenleitung“

„Der Mensch wird am Du zum Ich.“ (Martin Buber)

Es scheint so evident, dass man es vermutlich nicht näher ausführen muss: Die Gruppe ist eine Grundform des sozialen Lebens, die unter den verschiedenen sozialen Gebilden, die sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte entwickelt haben, eine herausragende Stelle einnimmt. Sie ist auch die verbreitetste Form des sozialen Verbunds; jeder Mensch gehört in der Regel verschiedenen sozialen Gruppen an, wie bspw. Familie, Freundeskreis, Arbeitsteams, politischen Verbänden oder jede spezifische Form von Freizeitgruppen.

In den verschiedenen Gruppen findet die Individualnatur des Menschen eine einzigartige Verbindung mit seiner wesensmäßigen Sozialnatur.Verschiedene Gruppen

Anthropologische und entwicklungspsychologische Aspekte:

Das gilt von Anbeginn des Lebens an, werden Menschen doch nur in und durch Beziehungen geboren. Die Gruppe nimmt die Neugeborenen auf. Der Mensch ist in einem Ausmaß wie kaum ein anderes Lebewesen auf Andere angewiesen. So sind wir als Menschen fundamental soziale Wesen, alleine können wir uns nicht entwickeln und nicht leben.

Menschen haben deshalb immer schon soziale Gemeinschaften gebildet, sei es in prähistorischen Zeiten um das pure Überleben zu sichern, schließlich um Territorien zu sichern oder eben ganz allgemein spezifische Interessen durchzusetzen. Die Gemeinschaft ist die tragende Säule des menschlichen (Über-)Lebens. Dem menschlichen Wesen ist diese soziale Angewiesenheit unentrinnbar eingeschrieben. Carl Rogers (1973), einer der wesentlichsten Begründer der Humanistischen Psychologie bezeichnete den Menschen einmal als „unheilbar sozial“.

Damit sind nicht nur philosophisch-anthropologische Aspekte angesprochen, sondern auch Hinweise auf entwicklungspsychologisch erarbeitete Ansätze auf Basis empirischer Befunde ins Spiel gebracht: „Das Ich gibt es nur als Antwort. […] Aus der Beziehung gezeugt und empfangen, in die Beziehung hineingeboren, lernt der Mensch, sein Sein als Mit-Sein zu begreifen, sich selbst als Mitmensch zu verstehen.“ (Schmid 1994, S.503)

Mensch in sozialer Umgebung

Ganz im Gegensatz zu einem häufig anzutreffenden, psychologischen Alltagsverständnis ist es eben keineswegs so, dass ein Individuum zur Welt kommt und dann - nach und nach - in Beziehung zu seiner sozialen Umgebung tritt; vielmehr kann der Mensch erst im Verlauf seiner (psychischen) Entwicklung, die nur im Rahmen einer sozialen Gemeinschaft möglich ist und von dieser erst ermöglicht wird, sich nach seiner Geburt aus seinem „sozialen Uterus“ heraus und sich (oft genug mühsam) dagegen abgrenzend im fortschreitenden Individuationsprozess mehr und mehr Selbstständigkeit entwickeln und so erst zur Person werden.

„In einem ständigen Prozess des Wechselspiels von Solidarität mit den anderen und Autonomie gegenüber den anderen, in ständiger Auseinandersetzung mit seinen Bezugspersonen und -gruppen und der Gesellschaft gestaltet der Mensch sein Leben. Er lernt und lebt es in Gruppen.“ (ebenda, S.504)

Zur aktuellen Bedeutung von „Gruppen“

Soziologische Aspekte:

Der spätmoderne, globalisierte Kapitalismus als Informations- und Wissensgesellschaft bewirkt auf Basis systemisch „eingeschriebener“ Strukturmerkmale, die eine ineinander verschränkte, wettbewerbsorientierte Dynamik von Geschwindigkeit, Komplexitätszuwachs und Wachstumszwang entfachen, eine zunehmende Undurchschaubarkeit und weitreichende Unsteuerbarkeit von (größeren) sozialen Systemen; auch wenn es unangenehm desillusionierend ist: Es ist von einer prinzipiellen Kontingenz1 auszugehen.

Für Organisationen bedeutet das u.a., dass unter diesen Bedingungen der zunehmenden Ungewissheit ein Operieren im Rahmen bürokratisch-hierarchischer Kommunikations- bzw. Führungsstrukturen nicht nur überholt, sondern kontraproduktiv wird. Um in Organisationen effektive Entscheidungen unter riskanten Bedingungen zeitnahe zu den aufgetretenen Problemen treffen zu können, müssen traditionell rigid und autoritär verfasste Entscheidungsstrukturen abgebaut werden. Vor allem für Arbeitskontexte im Wissens- und Dienstleistungsbereich, sowie bei Aufgaben, die hohe Kreativität und strategisches Denken erfordern, ist eine Umgestaltung von sozialen Arbeitsbeziehungen in Hinsicht auf hohe Kommunikationsqualität, partnerschaftliche (partizipative) Entscheidungsfindung sowie team- und prozessorientierte Kooperationsstrukturen unumgänglich.

So lässt sich aktuell eine Notwendigkeit von Kooperation in Gruppen (Teams) feststellen; die Möglichkeiten und der Zwang(!) Gruppenprozesse als Einzelne/r (in welchem Aufgabenzusammenhang auch immer) mitzusteuern, werden zur Alltagsrealität.

Die statistisch „normale“ Sozialisation von Personen ist unter den Bedingungen des spätmodernen Kapitalismus allerdings nach wie vor auf Einzelleistung ausgerichtet. Noch immer viel zu selten gibt es in Familie, Schule, Universität oder Arbeitsplatz die Möglichkeit, erfahren zu können, was Gruppen zu leisten in der Lage sind. Mehr oder weniger „unterschwellig“ (Stichwort „geheimer Lehrplan“) werden nach wie vor eher Haltungen und Kompetenzen gefördert, die im Rahmen der neoliberal argumentierten Wettbewerbsnotwendigkeiten (angeblich) Erfolg versprechen.

Erstaunlich hartnäckig wird übersehen, was im Kontext der Sozialpsychologie empirisch längst belegt ist: Kooperation in Gruppen ist signifikant effektiver als individualistische Einzelarbeit unter scharfen Wettbewerbsbedingungen.

Nicht unbedeutend für diese eigentlich erstaunliche Diskrepanz zwischen zunehmender und unübersehbarer Notwendigkeit von sozialer Vernetzung zur Bewältigung komplexer Aufgaben und der unzulänglichen Förderung von dafür nötigen Kompetenzen, die keineswegs „von Natur aus gegeben“ sind, sondern erlernt werden müssen, ist sicherlich ein oft überholtes Verständnis von „Kooperation“.

Geschichtlich betrachtet wurde lange Zeit unter Zusammenarbeit nur verstanden, dass mehrere Menschen gemeinsam unter Anleitung einer führungsverantwortlichen Person (und damit quasi „von Außen koordiniert“) versuchen ein gemeinsam übernommenes Arbeitsvolumen zu bewältigen2. Insofern ist die aktuelle Beachtung von Gruppen und Teams, die sich - zumeist im Rahmen vordefinierter Freiräume - selbst organisieren und steuern sollen, um im Sinne einer „fokussierten Synergie“ die jeweiligen, komplementär sich ergänzenden Einzelleistungen in Hinsicht auf die gemeinsamen Ziele zu kombinieren, historisch betrachtet, relativ neu.

Damit soll aber nicht übersehen werden, dass im militärischen Zusammenhang (und damit historisch in weiterer Folge auch im Kontext wirtschaftlicher Organisationen) selbstverständlich schon lange erkannt wurde, wie bedeutsam Gruppen sind und wie effektiv man die Gruppe nutzen kann, um organisationale Ziele zu erreichen. Im militärischen Kontext gehen die Intentionen dabei aus naheliegenden Gründen keineswegs in Richtung Selbststeuerung, gilt es doch im kriegerischen Anlassfall in eklatanter Dimension das eigene Handeln sogar gegen eigene vitale Interessen zu richten. Im Laufe der ständigen Kriegshandlungen hat man schon früh sehr klar erkannt, „dass Werte wie Patriotismus auf dem Kampffeld keinerlei Ansporn zu geben vermögen, dass es vielmehr auf die Zugehörigkeit zu (meist informell gebildeten) Gruppen ankommt. Die Gruppe gibt die nötige Unterstützung im Kampf. Das Handeln orientiert sich an der Loyalität der Gruppe gegenüber.

Das heisst, man hat realisiert, dass der Ansporn und die Unterstützung für die Soldaten an der Frontlinie und im Kampf aus informellen Gruppierungen und von face-to-face-Beziehungen kommen, d.h. von Kontakten, die intim und gefühlsbetont sind.“ (Bauleo 1988, S.79)

(Sozial-)Psychologische Aspekte:

Ausgehend von systemischen Grundpositionen ist klar: Eine Gruppe „an sich“ existiert im Alltag nicht; immer gibt es einen je spezifischen Kontext und eine bedeutsame Vorgeschichte, sei es von der Gruppe insgesamt, sei es von einzelnen Mitgliedern der Gruppe.

Die Gruppengrenzen sind dabei oft unklar und können von den Beteiligten jeweils unterschiedlich definiert werden. Auch die Zugehörigkeit ist oft zeitlich schwankend und es gibt häufig fließende Grade von Zugehörigkeit.

Verschiedene Modelle über die phasenweise Entwicklung von Gruppen, die immer spezifische Ziele (private wie berufliche) teilen, zeigen, dass zu Beginn eines Gruppenprozesses die Mitglieder tendenziell weniger mit den Inhalten zur Zielerreichung beschäftigt sind. Bevor inhaltliches Arbeiten effektiv möglich ist, muss erst einmal ausreichende Orientierung innerhalb der zu entwickelnden Sozialstruktur möglich werden. Die Gruppe muss als soziales Kollektiv verschiedene Schritte in Richtung Arbeitsfähigkeit machen.

Diese Entwicklungsschritte wurden systematisch erforscht. In den empirisch umfangreich erhobenen Daten wurden wiederkehrende Muster erkannt, aus denen sich verschiedene „Gesetzmäßigkeiten“ ableiten ließen.

Soziodynamisch betrachtet geht es dabei darum, die Art und Weise abzuklären, wie die Mitglieder der Gruppe miteinander umgehen, kooperieren und sich verständigen wollen. Die Klärungsaufgabe, wie die jeweiligen Beziehungen zueinander gestaltet sind, lässt sich dabei unter drei zentralen Themen zusammenfassen: Normen, Rollen und Status. Die Mitglieder jeder Gruppe müssen im Laufe ihrer kollektiven Entwicklung sich darüber verständigen, wie sie ihre wechselseitigen Beziehungen, die sich innerhalb der Gruppe entwickeln werden, über Normen, Rollen und Status ausbalancieren.

Normen

Jede Gruppe entwickelt im Laufe ihrer Geschichte (sehr schnell) ein Set an - zum Teil nicht expliziten - Regeln, die sog. „Gruppennormen“. Diese lassen sich definieren als: Eine von der überwiegenden Mehrheit der Gruppenmitglieder geteilte Erwartung, wie man als Mitglied der Gruppe in bestimmten Situationen denken, handeln und fühlen sollte.

Entwicklung der Gruppe - Gruppennormen

Diese Normen bedeuten immer eine Einschränkung möglicher Individualität, sie begrenzen den Möglichkeitsraum, geben durch diese Einschränkungen aber auch nötige Orientierung und lassen sich grundsätzlich unterscheiden nach den verschiedenen Inhalten (z.B. Aufforderungs- und Bewertungsnormen), das mit dem Verstoß gegen die Normen verbundene Ausmaß an Sanktionen (insbesondere soziale Anerkennung resp. Ächtung), den jeweils mit den Normen verbundenen Spielraum usw.

Grundsätzlich kann tatsächlich jede menschliche Verhaltens- und Erlebens(!)-möglichkeit Gegenstand einer solchen Gruppennorm sein. Im Kontext von Arbeitssystemen sind die folgenden Themenbereiche von Gruppennormen besonders bedeutsam: Leistungs- und Ambitionsniveau, Umgang mit Konkurrenz, Gestaltung der Kooperation, Umgang mit Konflikten und Fehlern bzw. Scheitern, Umgang mit Ressourcen (insbes. Zeit), Beziehungsgestaltung in Hinsicht auf Autorität und Hierarchie, Haltung gegenüber der relevanten Umwelt (z.B. gegenüber anderen Gruppen), Einstellung gegenüber den von übergeordneten Systemen vorgegebenen Zielen, Aufgaben und Regeln.

Ein zumeist beträchtlicher Anteil der Gruppennormen wurde nicht ausdrücklich zwischen den Mitgliedern vereinbart, sondern hat sich evolutionär und implizit entwickelt. Diese „ungeschriebenen Gesetze“ sind kaum jemals Thema der Kommunikation und sie sind auch nicht für alle bewusst erfassbar, obwohl sie im offenkundigen Verhalten oft erstaunlich lückenlos und für die Betroffenen selbst unbemerkt ständig berücksichtigt sind. Als Gruppenmitglied erkennt man sie (meist schmerzlich) erst dann, wenn sie überschritten wurden.

Offiziell vereinbarte Regelungen (Arbeitsrahmen, Organisationskultur - Leitbild, bei feierlichen Reden beschworene Selbstidealisierungen,…) und inoffizielle Normen müssen keineswegs immer im Einklang miteinander stehen.

Sie können einander widersprechen, das ergibt eine häufig zu beobachtende Inkongruenz zwischen deklarierten Ansprüchen und praktizierter Alltagsrealität. Dieser Widerspruch führt zu permanenten Spannungen, die sich dann manchmal in heftigen Konflikten entladen (nicht selten an völlig unerwarteten Stellen und bei unvorhersehbaren Gelegenheiten) oder aber sich in Form eines kollektiven Fatalismus chronifizieren und eine Weiterentwicklung damit hemmen.

Gruppennormen, die sich grundsätzlich sowohl hilfreich, wie auch hinderlich auswirken können, sind aber keineswegs unveränderlich. Sie können sich (evolutionär wie revolutionär) insbesondere entwickeln durch:

  • das Agieren einzelner Gruppenmitglieder, die sich je nach Position innerhalb der Rangdynamik, manchmal erfolgreich gegen eine Norm verhalten können und damit eine neue Norm etablieren;
  • Veränderungen im wirkmächtigen „Außen“ der Gruppe (z.B. organisationale Strukturinnovationen oder Vorschriften, aber auch räumliche Veränderungen bzw. Veränderungen der verfügbaren/notwendigen Ressourcen der Gruppe);
  • Veränderungen in der personellen Zusammensetzung der Gruppe (Neuzugänge oder Austritt bzw. Austausch einzelner Mitglieder);
  • gesamtgesellschaftliche, kulturelle Entwicklungen;
  • das bewusste, direkte und explizite „Aufdecken“ der bislang implizit gebliebenen Verhaltensnorm.

Gerade die letzte Möglichkeit ist insofern besonders interessant, als sie eine Interventionsmöglichkeit eröffnet, die im Vergleich zu anderen Optionen wenig aufwändig ist. Wird eine dysfunktional wirksame Gruppennorm im Rahmen einer metakommunikativen Selbstthematisierung der Gruppe adressiert, dann ist es schon „differenztheoretisch“3 betrachtet, geradezu unmöglich, der weiteren Befolgung der Norm gewissermaßen „unterworfen“ zu sein.

Folgend der Überzeugung, die man als ein „existenzialistisches Axiom“4 kennzeichnen könnte, und daran anknüpfender Beobachtungen, wird gültig, was als Gesetzmäßigkeit formuliert werden kann: „Jede Reflexion bringt Alternativen.“ Indem man feststellt, welche Norm in dieser Gruppe gilt, wird unentrinnbar zugleich formuliert, dass man es eben auch anders machen könnte. Ab sofort ist also jede weitere Befolgung im Grunde eine bewusste Entscheidung für diese Verhaltensmöglichkeit und damit gegen eine andere, alternativ auch möglich gewordene.

Es wurde gezeigt, dass jemand, „der sich einer sein Verhalten betreffenden Theorie bewusst wird, ihr dadurch nicht länger unterworfen ist, sondern es ihm freisteht, sich über sie hinwegzusetzen.“5

Rollen

Im Laufe der Entwicklung jeder Gruppe ergeben sich spezifische Rollenverteilungen. Jede Gruppe benötigt eine solche Mindestausstattung an unterschiedlichen Rollen, d.h. es braucht ein Mindestmaß an Ausdifferenzierung sich ergänzender, komplementärer und wiederholt realisierter Verhaltensweisen, damit eine Gruppe als solche funktionieren und Aufgaben bewältigen kann. Rollen lassen sich als gebündelte und unabgesprochene(!)6 Verhaltensaufforderungen an verschiedene Mitglieder der Gruppe verstehen. Sie konstituieren eine „soziale Adresse“ an deren aktuellen Inhaber („Bewohner/in“) Verhaltenserwartungen gerichtet werden, die als dadurch sich konfigurierendes (und relativ stabiles) Verhaltensmuster von der betroffenen Person in bestimmten Situationen gewählt wird. Rollen(-zuschreibungen) geben Auskunft über (implizite) Erwartungen, „Rechte“, Pflichten, Erlaubnisse und Verbote.

Rollenzuschreibungen scheinen unentrinnbar zu sein: „Selbst wenn sich eine Person allen konkreten Erwartungen innerhalb einer Gruppe immer wieder aufs Neue entzieht, so wird dies zugleich ihre Rolle sein: Die Gruppe wird sich auf die Unzuverlässigkeit jener Person verlassen.“ (Geramanis, 2007, S.17)

Rollen in Gruppen

Das verweist auf die so bedeutsame Dialektik zwischen Person und Umfeld, wie sie von Kurt Lewin (2012) prominent in den Kontext der Sozialpsychologie eingebracht wurde: Auf Basis des sozialen Erwartungsdrucks seitens des Umfeldes (der Mehrheit der Gruppenmitglieder) wird, zumindest im Sinne einer „forcierten Zustimmung“7 , ein bestimmtes (zugeordnetes) Verhaltensmuster von der betroffenen Person ausreichend attraktiv erlebt und also dann auch tatsächlich „gewählt“; man macht sich gegenüber seiner Umwelt damit „erwartbar“. Die Rolle wird also im Sinne einer dialektischen Verschränkung sowohl als Person gewählt, wie auch von der gruppalen Umwelt, als deren Produkt und Produzent man die Person und ihr charakteristisches Verhalten verstehen kann, „vorgegeben“.8

Diese hier nur angedeutete Dialektik ist für die Praxis deswegen enorm bedeutsam, weil sie die wohl häufigste Verwechslung vermeiden hilft: Ein situativ sich entwickelndes Rollenverhalten ist eben nicht gleichzusetzen mit dem Konstrukt der „Persönlichkeit“.

„Rolle“ und „Person“ sind zwei verschiedene Kategorien, d.h. eine Person geht nie ganz in einer kontextuell sich ergebenden Rolle auf, bzw. eine bestimmte, aus der gruppendynamischen Konstellation entwickelte Rolle bringt immer nur einen Ausschnitt der Person zur Darstellung. Im Rahmen des sog. „sozialen Konstruktionismus“ (Gergen 2009) wird, anknüpfend an diese Idee, das „Selbst“ nicht mehr als eine Art Träger von Eigenschaften verstanden, nicht als eine relativ stabile Struktur im Individuellen, sondern davon ausgegangen, dass sich das, was wir landläufig als „Persönlichkeit“ bezeichnen, im Kontext situativer Rollenerwartungen und damit sozialer Bezugnahmen9 immer wieder neu definiert. Das „Selbst“ löst sich daher als individuelles Phänomen im Beziehungsnetz auf.

Beziehungen sind, wie eingangs schon entwicklungspsychologisch argumentiert, grundlegender als Individuen. Wir definieren uns in einem dialektischen Prozess zwischen Person und Umwelt als Knotenpunkte in Beziehungsnetzen durch unsere gegenseitigen Bezogenheiten immer wieder neu. „Jeder Mensch“, so hat das Max Frisch einmal auf den Punkt gebracht, „erfindet früher oder später eine Geschichte, die er dann - manchmal unter gewaltigen Opfern - für sein Leben hält.“

Noch einmal bleibt dabei allerdings darauf hinzuweisen, dass wir als Produkt und Produzent/in unserer sozialen Umwelt (siehe oben) eben nicht nur selbst die Autor/inn/en unserer Geschichte sind, sondern unentrinnbar den jeweiligen Erzählungen von „Mit-Autor/inn/en“ ausgesetzt sind, die an unseren eigenen anknüpfen. Dieses Geflecht an verschiedenen „Erzählungen“ ergibt eine spezifische „Narration“, eine enorm wirkmächtige „Selbst- und Fremdbeschreibung“, die als solche in verschiedene Kontexte „mitgenommen“ wird und also ein sozial konstruiertes, „narratives Selbst“ ergibt.

Dieser Gedanke führt zu einer radikalen Umkehr einer Alltagsüberzeugung: Nicht die Beziehung ist vom Einzelnen her, sondern der Einzelne von den Beziehungen her zu verstehen.

Selbstverständlich drückt sich die Persönlichkeit des oder der Einzelnen, hier als ein „kontextuelles Selbst“ verstanden, in der spezifischen „Vorliebe“ für bestimmte Rollen aus. Es gibt gewissermaßen Rollen, die „einem liegen“ oder eben gar nicht „zu Gesicht stehen“. „Je nachdem wie man sich selbst zur eigenen Rolle verhält, erlebt man Rollenstarrheit, Rollenunsicherheit, Rollenflexibilität, Rollenklarheit, etc. Wobei eine einzelne Person immer auch eine Vielzahl verschiedener Rollen zu verschiedenen Zeitpunkten bekleiden kann.“ (Geramanis, 2007, S.17)

Die kategoriale Differenzierung zwischen „Person“ und „Rolle“ hilft in der Praxis chronifizierende Zuschreibungen an Personen zu vermeiden10 und hält die Möglichkeiten vielfältiger Verhaltensvarietät für alle Personen in einem höheren Maße offen, was für alle Beteiligten in vielerlei Hinsicht Vorteile bringt.

Andererseits erleichtert natürlich eine klar definierte und offiziell anerkannte Rolle dem einzelnen Gruppenmitglied die Beziehungsgestaltung: Es wird klar, was von einer bestimmten Rolleninhaberin zu erwarten ist und es schafft auch seitens der Rolleninhaberin Verlässlichkeit, insofern geklärt ist, was andere „mit einem gewissen Anrecht“ erwarten dürfen; es ergibt sich ein relativ überschaubarer Verhaltensspielraum, innerhalb dessen rollenkonformes Verhalten ohne weitere Konflikte akzeptiert wird.11

Wie schon bei den Gruppennormen erwähnt (siehe oben): Es gilt auch in Hinsicht auf die Rollenzuschreibungen, dass Verhaltensmuster nicht unveränderlich sind; auch Rollen sind verhandelbar und insbesondere dann, wenn sie explizit thematisiert, aufgedeckt und damit sofort auch infrage-gestellt sind, als solche veränderbar bzw. austauschbar.

In Hinsicht auf die inhaltliche Ausgestaltung verschiedener Rollenverteilungen in Gruppen gibt es eine Vielzahl an Modellen, die durch empirische Methoden entwickelt wurden. Die wohl bekanntesten dabei sind, das Modell der verschiedenen „Teamrollen“ nach Meredith Belbin (1993) oder das von Raoul Schindler (2016) entworfene Modell der „Rangdynamik“.12

Status

Durch das Zusammenspiel von impliziten Normen, expliziten Vereinbarungen und Regeln sowie informellen Rollen und formalen Funktionen kommt es immer auch zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung des „Status“ der einzelnen Gruppenmitglieder. Die soziale Stellung, die jemand innerhalb eines sozialen Gefüges, hier im Kontext einer Gruppe erringt, kann Auskunft über den jeweiligen Rang geben und also verschiedene Machtbasen bedeuten. Die Verteilung und Zuordnung der Statusunterschiede innerhalb einer Gruppe ergibt einen wichtigen Aspekt der Gruppenstruktur.

Wenn eine Gruppe bereits längere Zeit besteht, könnte durch folgende Fragen geklärt werden, wer bzw. welche Rollen welchen Status erfahren:

Wer hat innerhalb der Gruppe den grössten Einfluss auf die letztendlich zu findende Gruppenentscheidung? Auf wen nimmt man nonverbal Bezug, wenn einzelne Gruppenmitglieder sich an „die Gruppe“ wenden, auf wen richten sich bei solchen Fragen die Blicke? Auf wessen Zustimmung wird beim Einbringen von Vorschlägen besonders Wert gelegt?13

Die Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen, die sich auch durch Methoden wie bspw. der berühmten „Soziometrie“ (Moreno 2014) finden lassen, ergeben ein Bild darüber, wie die unterschiedlichen Bewertungen einzelner, die sich dann als „Statusunterschiede“ deuten lassen, verschiedene Einflusschancen auf die Entwicklungen in der Gruppe ergeben.

Die unterschiedliche Einflusshöhe auf Basis des errungenen Status ist dabei per se nicht hilfreich oder störend, das ergibt sich erst aus der jeweiligen Zielsetzung und der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen Verhaltens.

Es gilt zu beachten, dass zwar mit der verliehenen Funktion eines Mitgliedes ein bestimmter Status verbunden ist, der zumeist auch unverkennbar deutlich mittels „Statussymbolen“ deklariert und „ausgeschildert“ wird - man denke in diesem Zusammenhang an die vielfältigen (auch konfliktbeladenen) Prozesse der Vergabe von attraktiven Ressourcen und Privilegien an Führungskräfte -, dass sich aber dieser formale Status keineswegs mit dem informell vergebenen Status decken muss. Der funktional benannte Chef muss im Verlauf der konkreten Prozesse innerhalb der Gruppe nicht die maßgebliche Person sein, nach deren Meinung sich alle ausrichten. Status in der GruppeDer jeweilige Status kann zwar unmittelbar an die Funktion gebunden sein – muss aber nicht.

Dieses Auseinanderklaffen von offiziell vergebenem Status und informell gegebenem führt nicht selten zu erheblichen Problemen. Werden z.B. Entscheidungen

maßgeblich vom informellen Inhaber der „Alpha-Position“ (im Sinne des Rangdynamikmodells von Schindler)14 inhaltlich geprägt, so müssen sie dennoch vom formalen Chef innerhalb der übergeordneten Organisation vertreten und verantwortet werden.

Zur Frage, wie man typischerweise zu einem bestimmten Status innerhalb einer Gruppe kommt, listet Geramanis (2007) folgende fünf „klassische“ Möglichkeiten auf:„

  1. Höherer Rang über das Dienstalter, also über die Dauer der Zugehörigkeit zu einer Gruppe / einem Unternehmen. Die Rechte der Alten stehen über den Rechten der Neuen.
  2. Finanzieller Rang und hohe spezifische Statusmerkmale: Wer verdient hier wie viel? Wer fährt welchen Dienstwagen?
  3. Kreativer Rang: Wer leistet hier etwas Besonderes? Wer ist originell und kreativ?
  4. Beziehungsrang im Sinne der Gruppenorientierung: Wer ist für das interne Klima zuständig und hat hier etwas zu sagen? Wer setzt die Spielregeln fest?
  5. Hohe Selbstsicherheit und Ausstrahlen von Autonomie: Wer weiss, wo es langgeht? Wer geht so unbeirrt seinen Weg, dass man nur zu folgen braucht?“ (Geramanis 2007, S.23)

Der gleiche Autor weist zusammenfassend zu den hier nur kurz dargestellten wesentlichen Strukturmerkmalen Normen, Rollen und Status darauf hin, dass diese zentralen Merkmale von Gruppen ihre Schattenseiten aufweisen, wenn sie zu stark oder eben zu schwach ausgeprägt sind, oder wenn sie nicht im Dienste der Gruppenaufgabe, sondern als Selbstzweck praktiziert werden:„

  1. Normierung: Wird eine zu übertriebene Normierung praktiziert, so leidet die Kreativität und Motivation der Gruppe darunter. Das spontane Eingehen auf situative Besonderheiten wird erschwert. Herrschen zu schwache und geringe Normen, so geht zuviel Energie beim ständigen Neuerfinden des Rades verloren. Chaos und Überforderung sind die Folgen.
  2. Rollenspezialisierung: Werden die Rollen und die daran geknüpften Erwartungen zu ausführlich und detailliert formuliert, so steigt der Koordinationsaufwand, weil sich die Rollen ganz in ihren Spezialisierungen verlieren. Der Blick für das Ganze geht verloren, die Arbeitszufriedenheit in der Gruppe sinkt. Werden die Rollen zu gering definiert, so wird die Arbeit durch ständig notwendige Klärungs- und Aushandlungsprozesse behindert, weil man eben nicht genau weiss, was man konkret vom Gegenüber erwarten kann. Die Entwicklungsgrenzen sind dann schnell erreicht.
  3. Status und Hierarchisierung: Sind die Statusunterschiede zu stark ausgeprägt, so werden die individuellen Handlungsräume zu stark beschränkt. Die Verantwortung wird hin- und hergeschoben, worüber leicht Widerstand entsteht. Ist Status ein zu geringes Thema in Gruppen, so wird er früher oder später informell ausgehandelt. Dies führt zu verdeckten oder auch offenen Rivalitäten und mindert die Effizienz.“
  4. (Geramanis 2007, S.24)

Gruppenprozesse:

Es gibt verschiedene gruppendynamische Prozessmodelle, mit deren Hilfe sich idealtypisch(!) Gruppenzustände im zeitlichen Ablauf (Prozess) erfassen lassen, mitsamt signifikant damit verbundenen unterschiedlichen Verhaltensweisen und Gefühlslagen, die als Basis und zur Orientierung für verschiedene, „anschlussfähige“ Interventionen der Gruppenleiter/innen dienlich sein können.

Als Modelle haben sie heuristischen Wert, sie strukturieren die Wahrnehmung und helfen die Komplexität der Prozesse hilfreich zu reduzieren, sie erleichtern die Diagnose von Gruppensituationen. Setzt man sie jedoch prognostisch ein, dann werden sie normativ!

Die drei zentralen Dimensionen in den typischen Dynamiken von Gruppen sind: Zugehörigkeit - Macht - Intimität.15

Dieses „Trio“ ergibt sich aus der Beobachtung menschlicher Grundbedürfnisse im Bereich der interpersonellen Vernetzung: Jede Person hat Bedürfnisse nach Mitgliedschaft in Gruppen (Zugehörigkeit), nach Erfahrungen der Selbstwirksamkeit (Gestaltungswünsche, Macht) und nach sozialer Anerkennung und Nähe (Intimität).

Zugehörigkeit:

In jeder Gruppe muss geklärt werden, wer (nicht) dazugehört, wer im Zentrum steht und wer am Rande; ohne eine solche Grenzziehung kann eine Gruppe gar nicht entstehen (Definition der Systemgrenze).

Die Frage der dennoch bestehenden Offenheit gegenüber dem „Außen“ ist dabei ein wesentlicher Faktor für das Entwicklungspotenzial der Gruppe.

Psychologisch hochrelevant ist, wie schon erwähnt, in diesem Zusammenhang das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und die damit verbundene Angst vor Ausschluss. Es sollte dabei nicht übersehen werden, dass sich dieser Terminus nicht nur auf Gefühle der Zugehörigkeit zwischen den Personen bezieht, sondern auch auf die Beziehung der einzelnen zur gemeinsam etablierten Gruppenstruktur, das Gefühl der „Zugehörigkeit“ also zum gemeinsam entwickelten Mythos, zur kollektiv geteilten „Gruppenrepräsentanz“ (siehe dazu unten).

Macht:

Macht wird im Kontext der Gruppendynamik nicht als etwas verstanden, was die eine hat und der andere nicht, sondern wird vielmehr, folgend einem systemtheoretisch verfassten Ansatz, als ein Merkmal jeder sozialen Beziehung verstanden. Macht ist immer relativ, indem jede Person in das Netz sozialer Beziehungen eingebunden ist. Die Herausbildung von Macht ist zur Reduktion der gegebenen Komplexität in Gruppen notwendig.

Idealtypisch stehen einer Gruppe für die nötige Machtbalancierung zwei prinzipielle „Lösungen“ zur Verfügung:

  1. Hierarchie und Statusvergabe als eine Form der Rollendifferenzierung und
  2. Normen und Regeln, die so wie die entstehenden Rollen nur zum Teil formell (explizit) gegeben sind.

Der Umgang mit Macht in Gruppen ist gerahmt von der „äußeren Umwelt“ der Gruppe (z.B. der Organisation) und der „inneren Umwelt“ in Gestalt der beteiligten Personen, die ihre Bedürfnisse nach Gestaltung und Einfluss und ihre gelernten Erlebens- und Verhaltensweisen in diesem Zusammenhang in die Gruppe mitbringen.

Intimität:

Diese Dimension bezieht sich auf die unterschiedliche Ausgestaltung von psychischer Nähe zwischen den Mitgliedern. Damit sind Fragen von Sympathie und Antipathie und die sich daraus ergebenden Prozesse von Annäherung und Abstoßung adressiert.

Diese drei prominenten Dimensionen sind selbstverständlich eng miteinander verknüpft und ergeben eine bedeutsame Dynamik im Zusammenhang mit den schon erwähnten Statusdifferenzierungen: „Aus der gegenseitigen Attraktivität von Personen füreinander kann sich schnell eine Rangordnung herausbilden, die einzelne Mitglieder an den Rand rückt. Die Nähewünsche an eine Person, die von mehreren als attraktiv erlebt wird, können in Konkurrenz zueinander geraten. Es kann ein stiller Wettbewerb darum entstehen, was denn in dieser Gruppe als attraktiv gilt, wem diese Eigenschaften zugeschrieben werden und wem nicht. Einzelne als besonders attraktiv wahrgenommene Personen können zu Machtzentren werden, um die herum sich Untergruppen bilden.“ (König/Schattenhofer 2016, S.39)

Zeigen sich in einer Gruppe Verhaltensweisen, die für die Erledigung der Sachaufgaben kontraproduktiv erscheinen, dann kann dies als ein Hinweis auf die Wirksamkeit der „latenten Ebene“ verstanden werden und es gilt den Blick gemeinsam dorthin zu richten (Stichwort „Meta-Kommunikation“).

Es wurde in diesem Zusammenhang der Begriff der „Emergenten“ eingebracht und darauf hingewiesen, dass sich das Gruppengeschehen durch diese verschiedenen „Emergenten“ manifestiert. Mit diesem Begriff soll „ein Subjekt oder ein Ereignis bezeichnet [werden], das verbal oder averbal die Problematik, mit der die Gruppe beschäftigt ist, ausdrückt und somit verrät, was die Situation verbirgt. Auf der ersten, manifesten Ebene äußern sich die Subjekte und auf der zweiten, der latenten, spielen sie Verstecken. D.h. wir finden auf der zweiten Ebene das, was im Gespräch nicht gesagt wird. […] Die verschiedenen Ebenen sind also Schichten oder Aspekte der von den Gruppenmitgliedern gebildeten Struktur, die im Nachhinein wieder auf diese zurückwirkt.“ (Bauleo 1988, S.120)

Das Geschehen auf der latenten Ebene lässt sich dabei nur teilweise aus dem ableiten, worüber gesprochen wird; am ehesten wird die Dynamik verständlich, wenn man auch beachtet, wie gesprochen wird. (Wer hört wem zu? Wer reagiert auf wen (nicht)? Wer oder was findet (keine) Beachtung? Warum setzt sich ein Mitglied mit einem Vorschlag nicht durch, ein anderes Mitglied mit demselben Vorschlag aber schon? Welche averbale /non-verbale Signale sind auffällig? …).

An diesen Beobachtungen wird eine Erkenntnis deutlich, die mittlerweile bis in das Alltagsbewusstsein „gesickert“ ist und sich am prominentesten in der sehr bekannten These findet: „Die Gruppe ist mehr als die Summe ihrer Teile.“ Armando Bauleo (1988) formulierte dazu treffend und grundlegend: „Die Gruppe ist also ein Mythos, in dem individuelle und soziale Bestrebungen sich kreuzen. Das bedeutet, dass die Mitglieder mit ihren Interaktionen, mittels Identifikations- und Projektionsprozessen, eine Struktur erschaffen, von der sie im Nachhinein selbst bestimmt werden.“ (Bauleo 1988, S.118)

In diesem Sinne wird „Gruppe“ zu einem ein „Netz sozial möglicher Identifikationen; sie steckt einen Raum ab, der besondere Eigenschaften hat und nach einer Benennung verlangt: Er wird von den Individuen und den gesellschaftlichen Verhältnissen determiniert, die in der Gruppe in einem kontinuierlichen Austauschprozess stehen. Dieser Raum sich überschneidender Determinanten bestimmt die gruppenspezifische Form von Subjektivität.“ (ebenda, S.102)

Wie oben schon mehrfach erwähnt, soll hier nochmals auf den so bedeutsamen Umstand hingewiesen werden, dass sich ein dialektischer Prozess ergibt, der die individuellen Verhaltensmuster der Person zugleich als Produkt und Produzent von Gruppen ausweist. Es bildet sich eine Art „Instanz“, die man sich als einen imaginären, strukturieren „Raum“, belebt von Szenen, Dialogen, Bewegungen vorstellen kann. „Diese imaginäre Instanz, geschaffen durch die Beiträge der Gruppenteilnehmer, erweist sich im Laufe des Gruppengeschehens als relativ unabhängig von diesen und macht sich bemerkbar, indem sie bei den Teilnehmern bestimmte Verhaltensweisen inspiriert und hervorruft.“ (ebenda, S.103)

Es lassen sich also zwei Instanzen konzipieren: Die reale Gruppe der anwesenden Personen und die „Gruppenrepräsentanz“, die sich nach und nach in weiten Teilen identisch und damit kollektiv geteilt bei den einzelnen Mitgliedern kognitiv entwickelt. „Mit der Gruppenrepräsentanz ist ein ideell-ideales, phantasiertes oder imaginäres Modell gemeint, dass sich in seiner Funktionsweise von der Funktionsweise der Realgruppe unterscheidet.“ (ebenda. S.84)

Praktisch bedeutet das für professionelle Gruppenleitung, dass es gilt, immer wieder sehr achtsam und bewusst, diese kollektive „Selbstbeschreibung“ der Gruppe zu adressieren und daran auch bewusst mitzuwirken, ohne zu übersehen, dass man als Gruppenleiter/in eine andere Perspektive und Distanz innehat als die Mitglieder dieser Gruppe.

Um dabei das Besondere, die „Persönlichkeit“ („Syntalität“)16 einer Gruppe zu verstehen, lohnt es sich, nach dem Konflikt zu suchen, der für die Gruppe typisch, prägend oder identitätsstiftend ist und daher während ihres Bestehens in immer neuen Varianten durchgespielt wird. Dieser Konflikt ist als eine gemeinsame und besondere Antwort auf die Aufgaben zu verstehen, die die Gruppe übernommen und zu lösen hat.

DGruppendynamikaraus ergibt sich eine weitere konkrete Empfehlung für die Leitung von Gruppen: Damit Spannungen und Konflikte oder „Krisen“ die Entwicklung der Gruppe fördern und nicht etwa hemmen, sollte die Gruppenleitung Konflikte und Spannungen weder schon im Ansatz frühzeitig entschärfen, noch sie übermäßig eskalieren lassen. Konflikte sollten also weder zu früh noch zu spät angesprochen, aufgedeckt und damit auch entspannt werden. Nur dann können die Gegenkräfte optimal in Hinsicht auf die Gruppenentwicklung zur Wirkung gebracht werden.

Keinesfalls also sollte man als Gruppenleitung einseitig auf einen maximalen Zusammenhalt und die Integration hinarbeiten, sondern auch im Dienste der Differenzierung aktiv werden.17

Wie schon an verschiedenen Stellen angedeutet, soll hier abschließend festgehalten werden, dass jede funktionierende Gruppe in einer unentrinnbaren Spannung zwischen dem Kollektiv und dem Individuum lebt. Kreative, schöpferische und produktive soziale Prozesse entfalten sich nur, wenn sich die einzelnen Gruppenmitglieder gleichzeitig sowohl ihres individuellen wie ihres sozialen Wesens bewusst bleiben. Es gilt, die aus dieser Spannung sich ergebenden Dynamiken möglichst differenziert zu erkennen und zu benennen. Wenn das gelingt, können sich sowohl Personen wie auch die Gemeinschaft lernend entwickeln.

Autor: Peter Frenzel www.tao.co.at


Fussnoten:

  1. Zur Erläuterung des Begriffs „Kontingenz“ im soziologischen Sinn, siehe z.B. Luhmann 1984, S.152
  2. Vgl. dazu Geramanis 2007, S. 7
  3. Mit „Differenz“ wird im Theorieumfeld von Spencer-Brown (2004, 2008), Derrida (2004) und Luhmann (2004) das Resultat einer Beobachtungsoperation verstanden; indem man eine begriffliche Unterscheidung einführt, konstituiert man eine Unterscheidung zwischen dem Bezeichneten und dem davon abgegrenzten „Nicht-Bezeichneten“. Die differenztheoretische Bezeichnung eines Begriffes ist immer eine „Alternative“, wobei eine Alternative selbstredend nie alleine sein kann, sondern eine davon zu unterscheidende Alternative braucht. Diese wird immer - und sei es gewissermaßen „abgedunkelt“ - mit konstituiert, wenn man eine Unterscheidung trifft.
  4. Zum Begriff des „existenzialistischen Axioms“ siehe Howard, N. (1971) oder Watzlawick/Weakland/Fish 2013, S.145f; dabei wird im Kontext der Spieltheorie darauf aufmerksam gemacht, dass das Wissen um die Spielregeln eine entscheidende Bedeutung für den Ausgangs des Spiels hat.
  5. Siehe Howard 1971, S. 64
  6. Die Betonung, dass diese Erwartungshaltungen „unabgesprochen“ (also „informell“) adressiert werden, soll die Differenzierung zwischen „Rolle“ und „Funktion“ unterstreichen. „Funktion“ wollen wir hier als ein explizit (also „formal“) übertragenes Aufgabenbündel definieren, das zumeist auch mit einer bestimmten „Funktionsbezeichung“ einhergeht (wie bspw. „Moderatorin“) und im Kontext professionell gestalteter Organisationen mittels einer „Funktionsbeschreibung“ („job description“) eine bestimmte Aufgabenerledigung vorgibt, die bei Nichterfüllung zumindest sozial (in Folge eben expliziter Vereinbarung), wenn nicht sogar rechtlich einklagbar ist (Arbeitsverträge). (vgl. dazu z.B. Pechtl 1995; S.202f)
  7. Zum Begriff der „forcierten Zustimmung“ und die experimentell entdeckten kognitiven Konsequenzen siehe insbes. Festinger, L. (1978).
  8. Siehe dazu die berühmte „Formel der Sozialpsychologie, wie sie von Lewin formuliert wurde: V = f(P, U); das menschliche Verhalten (V) ist immer eine Funktion (f) von Person (P) und Umwelt (U).
  9. Zum Begriff des „sozialen Konstruktionismus“ sei noch angemerkt, dass hier bewusst nicht, wie oft synonym verwendet, vom „Konstruktivismus“ (siehe z.B. v. Glasersfeld, 1997) gesprochen wird, um klar zu kennzeichnen, dass (trotz weitreichender Gemeinsamkeiten) der Fokus der Aufmerksamkeit nicht darauf gerichtet ist, den individuellen Geist als Ursprung der Wirklichkeitserzeugung zu betrachten, sondern die Beziehungen als die Ursprungsorte der Wirklichkeitskonstruktion adressiert werden.
  10. Siehe dazu die (mitunter fatalen) Konsequenzen der sog. „Labelling-Effekte“ - „The young delinquent becomes bad because he is defined als bad.“ (Tannenbaum, F. , 1938)
  11. Vgl. Geramanis 2007, S.16f
  12. Diese verschiedenen Modelle von typischen Rollen in Gruppen haben wir an anderer Stelle ausführlich dargestellt (TAO-Seminarskriptum zum Thema „Rolle - Funktion - Status“)
  13. Vgl. dazu Geramanis 2007, S.22
  14. Vgl. dazu - wie oben schon erwähnt - das Modell von Schindler 2016.
  15. Vgl. dazu und nachfolgend: König/Schattenhofer 2016, S. 34ff
  16. „Gruppensyntalität“ (group) syntality, von R.B. Cattell (1948) parallel zu dem Wort „personality" geprägtes Kunstwort zur zusammenfassenden Bezeichnung der Eigenschaften, die eine Gruppe als eine handelnde Einheit oder als „Ganzes“ charakterisieren.
  17. Vgl. dazu König / Schattenhofer 2016, S.59

zitierte Literatur:

  • Bauleo, A. (1988): Ideologie, Familie und Gruppe. Zur Theorie und Praxis der operativen Gruppentechnik. Hamburg (Argument-Verlag) 1988
  • Belbin, R. M. (1993): Team Roles At Work. Oxford (Butterworth Heinemann) 1993
  • Cattell, R.B. (1948): Concepts and methods in the measurement of group syntality. Psychol. Review 1948 Jan. 55(1), 48-63
  • Derrida, J. (2004): Die différance. Ausgewählte Texte. Stuttgart (Reclam) 2004
  • Festinger, L. (1978): Theorie der kognitiven Dissonanz. Bern (Huber) 1978
  • Geramanis, O. (2007): Gruppen-Kompass. Gruppen-Design zwischen Struktur und Prozess. open access: www.gruppendynamik.ch/downloads/gruppen_kompass-pdf dl. 1.9.2017, 18:00
  • Geramanis, O. (2017): Mini-Handbuch Gruppendynamik, Weinheim (Beltz) 2017
  • Gergen, K.J., Gergen, M. (2009): Einführung in den sozialen Konstruktionismus. Heidelberg (Carl-Auer-Systeme) 2009
  • v. Glasersfeld, E. (1997): Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt (Suhrkamp) 1997
  • Howard, N. (1971): Paradoxes of Rationality: Theory of Metagames and Political Behavior. Cambridge-London (M.I.T. Press) 1971
  • König, O., Schattenhofer, K. (2016): Einführung in die Gruppendynamik. 8. Aufl., Heidelberg (Carl-Auer-Systeme) 2016
  • Lewin, K. (2012): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Bern (Huber) 2012
  • Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt (Suhrkamp) 1984
  • Luhmann, N. (2004): Einführung in die Systemtheorie (hg. von Dirk Baecker). Heidelberg (Carl-Auer-Systeme) 2004
  • Moreno, J. (2014): Die Grundlagen der Soziometrie. Wege zur Neuordnung der Gesellschaft. 4. Aufl., Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften) 2014
  • Pechtl, W. (1995): Zwischen Organismus und Organisation. Linz (Landesverlag) 1995
  • Reichmann, M. (2015): Zeichen und Differenz bei Jacques Derrida und Niklas Luhmann: Dekonstruktion und Systemtheorie im Vergleich. Hamburg (Diplomica) 2015
  • Rogers, C. R. (1973b): Die Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta. (Original erschienen 1961: On becoming a person)
  • Schindler, R. (2016): Das lebendige Gefüge der Gruppe: Ausgewählte Schriften. Gießen (psychosozial) 2016
  • Schmid, P.F. (1994): Personzentrierte Gruppenpsychotherapie. Ein Handbuch. Band 1 - Solidarität und Autonomie. Köln (Edition Humanistische Psychologie) 1994
  • Schönwälder-Kuntze, T., Wille, K., Hölscher, T. (2009): George Spencer Brown. Eine Einführung in die „Laws of Form“. 2. Aufl., Wiesbaden (Verlag für Sozialwissen-schaften), 2009
  • Spencer-Brown, G. (2004): Laws of Form - Gesetze der Form. Leipzig (Bohmeier) 2004
  • Spencer-Brown, G. (2008): Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft. Heidelberg (Carl-Auer-Systeme) 2008
  • Tannenbaum; F. (1938): Crime and the Community. New York (Columbia University Press) 1938
  • Watzlawick, P., Weakland, J.H., Fish, R. (2013): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. 8. Aufl., Bern (Huber) 2013

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