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Optimismus oder Hoffnung? Eine Stellungnahme gegen die Bequemlichkeit der Zuversicht

Peter Frenzel,

Einst fragte die Tannenmeise ihre Freundin, die Wildtaube: „Sag mir was eine Schneeflocke wiegt.“

„Nicht mehr als ein Nichts“, antwortete die Wildtaube.

„Dann lass mich dir eine kleine Geschichte erzählen…“, sagte da die Meise.

„Ich saß eines Tages auf einem dicken Ast einer Fichte, dicht am Stamm, als es zu schneien anfing. Es schneite nicht heftig, sondern ganz sanft und zart, ohne Schwere. Da ich gerade nichts Besseres zu tun hatte, zählte ich die Schneeflocken, die auf die Zweige und auf die Nadeln des Astes fielen und darauf hängen blieben. Es waren exakt dreimillionen-siebenhundert-einundvierzigtausend-neunhundert-zweiundfünfzig Schneeflocken, die ich zählte. Und als die letzte der dreimillionen-siebenhundert-einundvierzigtausend-neunhundert-dreiundfünfzig Schneeflocken leise und sanft niederfiel, die nicht mehr wog als ein Nichts, brach der starke, dicke Ast der Fichte ab.“ Damit flog die Meise davon.pixabay forest

Die Taube, als Spezialistin für den Frieden, sagte zu sich nach kurzem Nachdenken: „Vielleicht fehlt ja nur eines einzelnen Menschen Stimme zum Frieden der Welt … ." Quelle: unbekannt

Es wäre interessant zu erfahren, wie häufig ich in den letzten Monaten die mittlerweile zum Kalenderspruch verkommene Weisheit, die „Krise möglichst als Chance zu verstehen“, hören oder lesen konnte.

Taucht dieser Gedanke auf, dann dauert es meist nicht lange bis Gespräche, häufig dann in Form durchaus heftiger Wechselreden, in ernsthaften Erwägungen landen: Eröffnet die (all-)gegenwärtige Pandemie vor dem Hintergrund der weltweiten Krisenvielfalt nicht ein vielleicht rettendes Gelegenheitsfenster für substantielle gesellschaftliche Veränderungen?  Indem die Corona-Krise schonungslos Systemschwächen aufdeckt, ergeben sich dadurch nicht günstige Vorbedingungen für den nötigen weltweiten Wandel in Richtung Nachhaltigkeit? Und schließlich: Wird sich alles letztlich zum Guten wenden oder ist das jetzt nur der Auftakt zu viel gefährlicheren Krisen?

pixabayIm Rahmen meiner psychotherapeutischen Praxis beklagte sich jemand darüber, dass sie in ihrem Umfeld immer wieder für ihren unerschütterlichen Glauben an letztlich konstruktive Auswirkungen der gegenwärtigen Krise (als Chance) kritisiert wurde: „Du bist eine naive Optimistin, du willst dich bloß deiner Angst nicht stellen! Siehst du denn durch deine rosarote Brille nicht, auf welches Elend wir hinsteuern?“ In ernste Zweifel geraten, fragte sich meine Klientin: „Darf, kann, ja – soll man nicht, womöglich ‘trotzdem‘, voller Hoffnung sein oder bleiben? Lässt sich mein Optimismus wirklich nicht rechtfertigen?“

In dieser Frage tauchen zwei Begriffe auf, die es wert sind genauer betrachtet zu werden. Kann man „Optimismus“ und „Hoffnung“ wirklich einfach gleich setzen, wie sich das in unserer Alltagssprache häufig beobachten lässt? Könnte eine in diesem Zusammenhang unternommene „Wortklauberei“ von praktischem Nutzen sein?

Eine hilfreiche Antwortrichtung findet sich dazu in einem besonders häufig zitierten Definitionsversuch zur Hoffnung, er stammt von Václav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“

Hier schimmert bereits ein wesentlicher Unterschied durch: Hoffnung hat eben nichts mit der oben schon erwähnten „rosaroten Brille“ zu tun. Eine letztlich fatalistische „Es-wird-schon-alles-gut-werden“-Haltung, wäre eher ein Ausdruck der „Banalität des Optimismus“(1) und könnte als realitätsverweigernde Erträumung ersehnter Zukunft zu einer Passivität (ver-)führen, die womöglich das tatsächliche Eintreten drohenden Unheils noch befördert. Die Popularität einer als „optimistisch“ bezeichneten Lebenshaltung ist allerdings nach wie vor ungebrochen. Eine Fülle von Ratgeberliteratur und jede Menge Coaches am Beratermarkt warnen uns vor der lebensbestimmenden Bedeutung tendenziöser Betrachtungen entlang des so berühmten Beispiels vom halbleeren Glas, das immerhin doch noch halbvoll sei. Daran knüpfen sich dann rezepthafte und glücksverheißende Lebensweisheiten. „Positives Denken“ wird zum Allheilmittel, wenn nicht gar zum kollektiven Imperativ in einer von beständiger Selbstoptimierung geprägten Alltagswelt.

Unzählige Male schon musste ich als Unternehmensberater das mit überzeugtem Stolz vorgetragene „Erfolgs-Mantra“ allzu tatkräftiger Businessleute ertragen, die mir in Hinsicht auf ihre Unternehmenskultur erklären, dass „es bei uns keine Probleme, sondern eben nur Herausforderungen gibt“. Selbstredend ist die Haltung, Chancen im Missgeschick zu suchen und Lösungen zu entwerfen, einer gelingenden Lebensführung dienlicher, als durch übermäßig grübelndes Nachdenken sich immer neue Möglichkeiten des Scheiterns vorzustellen, die Schuldigen auszuforschen und damit so manche „Anleitung zum Unglücklichsein“(2) zu befolgen; - eine „positive“ Haltung aber bei drohenden Gefahren zur ideologischen Maxime zu erheben, kann sogar gefährlich werden. Wenn Optimismus zu einer durchgängigen Färbung eigener Wahrnehmung wird, die sich durch Fakten kaum mehr beeindrucken lässt, wird eine leider häufige Form bedrohlicher Dummheit verhaltenswirksam, die Thomas Bernhard einmal als „Blickverweigerung“ definierte. Flache  „Think-Positive-Haltungen“  führen bspw. nicht selten dazu, ernstzunehmende Veränderungsnotwendigkeiten oder auch konkrete Handlungsaufforderungen entweder einfach zu ignorieren (man denke in diesem Zusammenhang bspw. an die aktuellen Empfehlungen eine MNS-Maske zu tragen) oder als übertriebene Panikmache zu verunglimpfen.pixabay time

Selbstverständlich greift es viel zu kurz, eine solche Haltung nur einer persönlich zu verantwortenden „Dummheit“ zuzuschreiben. Unschwer lässt sich eine systemstabilisierende Funktion solcher Einstellungen erkennen, die als Ausdruck von Veränderungsängsten ein hartnäckiges Verharren in einem längst unhaltbar gewordenem Weltverständnis fördert. Bei Theodor W. Adorno, dem wohl prominentesten „Philosophen des beschädigten Lebens“, findet sich dazu der Hinweis: „Ist etwas Ideologie, dann der offizielle Optimismus, der Kultus von Positivität.“(4)

Ein so verstandener, womöglich ideologisch unterstützter Optimismus wirkt sich, wie sich auch empirisch belegen lässt(3), mitunter äußerst negativ auf unser Risikoverhalten aus. Eigentlich scheint völlig klar, dass Optimismus keineswegs die alleinige Vorbedingung für gelingende Problemlösung sein kann, sondern ganz im Gegenteil immer wieder als eine nicht unbedeutende Problemursache identifiziert werden muss. Sich genau gegenteilig immer wieder in schonungsloser Klarheit vor Augen zu führen, welche negativen Konsequenzen sich bei fortlaufender Entwicklung ergeben können, kann rettend sein. Das im Kontext der Persönlichkeitspsychologie empirisch entwickelte Konzept des „defensiven Pessimismus“(5), weist auf die hilfreiche Strategie hin, sich nach realistischer Einschätzung bevorstehender Gefahrenmomente der damit verbundenen Furcht zu stellen. Dadurch können die eigenen Ängste in die gründliche Vorbereitung auf bevorstehende Risikosituationen einfließen. Entsprechend gewappnet, lassen sich schwierige Situationen eben besser meistern. Die „positive Kraft negativen Denkens“(6) war es letztlich, die es bis heute den solcherart orientierten Regierungen ermöglicht, in Verbindung mit ausreichendem Vertrauensvorschuss seitens der jeweiligen Bevölkerung via „Corona-Lockdown“ die grauenvollen Folgen massiver Überlastungen intensivmedizinischer Einrichtungen zu verhindern. Fritz Simon, aktuell sicher einer der bedeutendsten Systemtheoretiker, zieht aus ähnlichen Überlegungen daraus eine mir nachvollziehbare Schlussfolgerung: „Wenn die Frage nach den Möglichkeiten der Umsteuerung von Gesellschaft gestellt wird, kann m.E. aus systemtheoretischer Sicht die Frage nicht lauten: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?, sondern sie muss lauten: In welcher Gesellschaft wollen wir auf keinen Fall leben?“(7) Die nach Ansicht Max Horkheimers anzustrebende „Einsicht in die Schlechtigkeit des Bestehenden“(8) ergibt eben als Ergebnis kritischer Analyse einen „theoretischen Pessimismus“, der angesichts aktueller Entwicklungen durchaus Schlimmstes erwarten lässt.

Im philosophischen Zusammenhang, und zwar insbesondere in Hinsicht auf Technikbewertung und Umgang mit wissenschaftlich-technischem Fortschritt, stößt man dabei auf einen von Hans Jonas in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“(9) prominent geprägten Begriff: Die „Heuristik der Furcht“. Sie bedeutet u.A., immer von den schlimmsten möglichen Folgen auszugehen und dabei, nach Jonas, nie die „Fernstenliebe“ (heute wohl „Enkeltauglichkeit“) zu vergessen. Eine solche „Vor-Sicht“ mündet dann selbstverständlich nicht in die (ohnehin skurrile) Empfehlung schlichtweg keine Innovation mehr zu versuchen, weil ja tatsächlich alles potentiell auch negative Konsequenzen haben kann; - vielmehr geht es dabei darum, in strikter Abgrenzung gegenüber einem fortschrittsgläubigen Optimismus, die eigene Fantasie auch dafür einzusetzen, potentiell negative Konsequenzen trotz damit einhergehender Angsterregung zu reflektieren.

Meine eigene Erfahrung dabei: Vertritt man, womöglich im Kontakt mit offensiv fortschrittsoptimistisch Gesinnten, eine durchaus begründbare Skepsis(10) (zum Beispiel gegenüber Lösungen, die durch „grünes Wachstum“ in erster Linie technologische Ansätze propagieren), dann bekommt man schnell zu hören, solche Einwände würden sich auf „unrealistische Annahmen“ stützen. Diesem sogenannten „Realismus“ lässt sich jedoch mit dem Philosophen Walter Zimmerli entgegnen, dass sich im Regelfall die Zukunft als weitaus komplexer erweist, „als das, was selbst die ‚unrealistischsten‘ Prognosen über sie gesagt haben. Also, mit anderen Worten: Gedankenexperimente im Sinne der kreativen Phantasie, die durchaus durch Gefühle der Hoffnung oder der Furcht beflügelt werden soll, müssen geradezu zum Prinzip werden, mit dem wir uns das Spektrum der Möglichkeiten, die wir bei der Bewertung zu berücksichtigen haben, überhaupt erst eröffnen können.“(11) Würde man, der oberflächlichen Spielart eines sogenannten „Realismus“ folgend, ausgehend von momentanen Situationsmerkmalen nur linear extrapolieren, dann hätten wir mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die geringste Chance, in der Zukunft das anzutreffen, was wir prognostisch vermuteten.

Im Zusammenhang mit der Frage ob Optimismus oder Hoffnung anzuraten ist, bringen uns diese Überlegungen zur Dialektik von Utopie und Dystopie: So wertvoll sich immer wieder Zuversicht letztendlich im proaktiven Handeln auf Basis einer ermutigenden Selbstwirksamkeitserwartung und vor dem Hintergrund einer positiven Utopie ausdrückt, der „Sturz in den Schatten“(12) dieser Haltung kann sich schnell ergeben, wenn sich illusionärer Optimismus als Verdrängung oder Bagatellisierung von Gefahren auf Basis eines unhinterfragbaren Machbarkeitswahns (womöglich kollektiv forciert) breit macht. Das nötige Korrektiv oder „Gegengewicht“ findet sich in furchterregenden Einschätzungen potentieller Gefahren der globalen Krisen vor dystopischem Hintergrund.

Ein derartiges Krisenbewusstsein kann aber, ohne seinerseits ein Korrektiv in den Einschätzungen potentieller Chancen zu finden, zur womöglich verzweifelten Angstlähmung werden, die dann in resignierender Endzeitstimmung sich einem vermeintlichen Schicksal ergibt.

In den hier durch dialektisches Denken aufgezeigten Gefahrenpotentialen von Utopien und Dystopien zeigt sich außerdem, wie prinzipiell verwandt eine durchgängig optimistische Lebenseinstellung, die aktuell (und nach wie vor) eine enorme Popularität genießt, dem Pessimismus ist. Beide sind, indem sie eine Art „tendenziöse Apperzeption“(13) entwickeln (ein zwar sperriger aber doch prägnant treffender Terminus von Alfred Adler), sozusagen „einäugig“, und damit strukturidentisch, weil sie in ihren Beschreibungen, Bewertungen und Erklärungen der Welt gleichförmig fixiert sind. Hans Magnus Enzenberger bringt diese „Verwandtschaft“ unübertroffen klar auf den Punkt: „Auch die Apokalyptiker glauben ja an eine einwandfrei absehbare Zukunft, die keinen Zickzackkurs kennt und keine Ungleichzeitigkeit zulässt. Ihr Pessimismus ist ebenso gradlinig und fantasielos wie der Optimismus, der die Fraktion des unaufhaltsamen Fortschritts auszeichnet.“(14) Der schon erwähnte Walter Zimmerli scheint, ganz im Gegensatz zur ausnahmslos optimistischen oder eben auch pessimistischen Einäugigkeit, die Dialektik in Hinsicht auf die Einschätzung zukünftiger Entwicklungen zu bevorzugen: „Was passieren kann, ist ja immer im Plural vorhanden. Es gibt nie nur etwas, was passieren kann. Die Definition von Möglichkeiten schließt ein, dass es mehrere davon gibt, so dass also die Vorstellung, die wir von der Zukunft haben, eher die eines Korridors als die eines Weges ist. Natürlich wird sich in diesem Korridor nachher ein Weg realisieren, aber Prognosen oder Utopien haben die Funktion, gleichsam die Ränder des Korridors festzulegen, zu sagen: Wo kann es schlimmstenfalls hingehen, und wo kann es bestenfalls hingehen. Und die optimistischen Utopien […] haben gleichsam die eine und die pessimistischen Prognosen die andere Begrenzung auszuloten: aber erst zusammen machen sie Sinn.“(15) pixabay

So viel zur Dialektik zwischen Utopie und Dystopie, die als Zusammenspiel aus meiner Sicht das ergibt, was „Hoffnung“ im Unterschied zum „Optimismus“ kennzeichnet. So verstanden adressiert der Begriff eine Art Lebenskunst, die ein positives „Noch-Nicht“ im problematischen Jetzt als Möglichkeit(!) sehen kann. Hier ist eine Haltung angesprochen, die erkennen lässt, dass es nicht nur gilt, die gegenwärtig gegebene „Realität“- das Aktuelle - möglichst unverzerrt wahrzunehmen, sondern auch das Potentielle zu konstruieren.

Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, schreibt Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, „muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein.“(16)

Das Erkennen der potentiellen Möglichkeit einer - oder mehrerer - Alternativen zum gegebenen Ist-Zustand ist der Beginn jeder Utopie. Tritt der Gedanke auf, dass es, wie Musil formuliert, „wahrscheinlich auch anders sein könnte“, weil hier etwas „geschehen könnte, sollte oder müsste“, dann ist damit zumindest implizit ein Mangel an Zufriedenheit mit dem Gegebenen festgestellt. Die versuchte Konstruktion von Alternativen hat wenig Sinn, wenn keine Situation vorliegt, gegen die sich irgendein Einspruch erhebt. Ein Einspruch aber kann sich nur ergeben, wenn sich zumindest ahnungsvoll Sollwerte finden lassen, vor deren Hintergrund sich das Gegebene als problematisch bewerten lässt. Dieser Umstand ergibt folgelogisch die Empfehlung, dass der wohl beste Weg eine unerwünschte aber dennoch bestehende Praxis zu „entlarven“ (oder zu „entmystifizieren“) darin besteht, eine Alternative zu skizzieren. Positiv bewertete Zukunftsentwürfe ergeben so eine effektive Methode das Bestehende (als das nur vermeintlich einzig Mögliche) in Misskredit zu bringen und zumindest Rechtfertigungsnotwendigkeiten zu erzwingen.(17)  Damit wird der unentrinnbar kritische Charakter von Utopien deutlich, sofern es sich dabei nicht bloß um Science Fiction, unverbindliche Prognosen oder Mythen handelt.

Im Kontext politischer Themen waren und sind Utopien immer schon ein Medium der Kritik, indem Einwände gegen Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Elend und Gewalt in einer spezifischen Zukunftsgestalt gebündelt werden. Positive Fiktionen sind eine unverzichtbare Voraussetzung um klare Strategien in Hinsicht auf alternative Welten zu entwickeln. Wird menschliches Elend nicht mehr als unentrinnbares Schicksal und/oder als von höheren Wesen determiniert betrachtet, sondern als Ergebnis konkreten Handelns von Menschen erkannt, können die Ursachen von vielen Fehlentwicklungen identifiziert und schließlich auch beseitigt werden, um so ein besseres Leben für alle zu erreichen.(18)

Auf der theoretischen Ebene beschreibt vermutlich die von den Gründungspersonen der sog. „Frankfurter Schule“ (Horkheimer/Adorno) entworfene Kombination von „theoretischem Pessimismus“ und „praktischem Optimismus“ am besten das hier skizzierte Verständnis von Hoffnung. Dazu braucht es selbstverständlich neben der intellektuellen Durchdringung systemimmanenter Gefahrenmomente auch ein Zukunftsbild in Hinsicht auf personale Herausforderungen. Antonio Gramsci formulierte dazu in seinen „Gefängnisheften“: „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“(19)

In diesem Appell, welche Qualitäten Personen entwickeln sollten, um drohendes Unheil noch abzuwenden, schimmert implizit genau jenes Verständnis von Hoffnung durch, das ich hier zu skizzieren versuche: Ein aufrecht bleibendes Streben gegebene Missstände zu erkennen, zu benennen und schonungslos zu extrapolieren, was bei Fortführung zu befürchten ist und gleichzeitig entlang gut begründeter Zielbilder (dennoch) das zu tun, was nötig scheint.

Jeder Zukunftsentwurf aber, egal ob er sich auf eine gesellschaftliche Utopie oder einen „neuen Menschen“ bezieht, bleibt, trotz eines womöglich „zwingend richtig“ anmutenden Argumentariums, ohne die Hoffnung kraftlos. Eine unverzichtbare Vorbedingung, um drohendes Unheil aktiv zu verhindern, ist wohl der Glaube, dass es abwendbar ist. Hoffnung, auf Basis scharfsinniger Analysen, daraus resultierenden Ängsten und entwickelter Besorgnis, wird damit zu einem auch persönlich verfassten Suchprozess, der danach trachtet das potentiell Rettende in der Gegenwart aufzuspüren. Dabei sind wir füreinander alltäglich höchst bedeutsam, indem wir fernab optimistischer Blindheit durch das Erkennen und Entwerfen von Möglichkeiten auch in schwierigen Zeiten Hoffnung fördern können.pixabay-hope-homeless

Hinsichtlich unserer aktuellen Pandemiekrise, finden sich dazu in einem kleinen Aufsatz eines Philosophen inspirierende Beispiele:  „Wenn man die Augen aufmacht, kann man schon einiges sehen, was Hoffnung blühen lässt. […] Da ist die Geschichte von Charo, die an ihrem 80. Geburtstag allein in ihrer Wohnung in Madrid festsaß. Ihre Nachbarn stellten ihr einen Geburtstagskuchen vor die Tür und brachten ihr ein Ständchen dar … Da ist die Geschichte von Kindern in Nebraska, die Genesungskarten für Erkrankte gebastelt haben. Die Geschichte des Sternekochs in Berlin, der eine Initiative ‚Kochen für Helden‘ gegründet hat und für Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger kocht. Oder die Geschichte von der Idee ‚Händler helfen Händlern‘, durch die Menschen, die sonst nicht im Lebensmittelhandel arbeiten, während der Krise dort Arbeit finden. Diese Geschichten sind wie Dünger für den Boden, auf dem Hoffnung blühen kann […]. Jede kleine Geste nährt die Hoffnung.“(6)

Solcherart kann jede einzelne Person, in Abgrenzung gegenüber einem Optimismus als bloße Beschwörungsformel gegen aufkeimende Ängste, kraft eigener Handlungen eine ermutigende Initiatorin und also ein potentieller Hoffnungsträger werden.

© Peter Frenzel, im Juli 2020, www.tao.co.at


Literatur und Anmerkungen:

(1) Eagleton, T. (2016): Hoffnungsvoll aber nicht optimistisch.Berlin (Ullstein) 2016

(2) Watzlawick, P. (1983): Anleitung zum Unglücklichsein. München (Piper) 1983

(3) Siehe dazu Schütz, A. / Hoge, L. (2007): Positives Denken: Vorteile - Risiken - Alternativen. Stuttgart (Kohlhammer) 2007

(4) Siehe dazu Adorno, T. (1964): Schwierigkeiten. In: Gesammelte Schriften, hrsg. von Tiedemann, R., Frankfurt (Suhrkamp) Bd. 4, S. 255

(5) Vgl. dazu Norem, J.K. (2002): Die positive Kraft negativen Denkens. Bern (Scherz) 2002

(6) Vgl. dazu ebd.

(7) Siehe dazu Simon, F. (2020): „Ich möchte lieber nicht.“ In: Kemfert, C. et al. (2020): Das Anhalten der Welt. Open access: https://www.carl-auer.de/magazin/das-anhalten-der-welt/umsteuern-der-gesellschaft, (online am 3.8.2020)
Den Gedanken weiter konkretisierend, findet sich dort noch der folgende Hinweis auf erfolgreiche historische Beispiele: „Wir sollten uns also sehr bewusst fragen und politisch diskutieren, in welcher Gesellschaft wir nicht leben wollen. Das hat in der Geschichte ja auch in vielen Bereichen (zumindest in unseren Breitengraden) ganz gut funktioniert: Wir wollen keine Kinder im Steinbruch arbeiten sehen; es sollten möglichst wenige Säuglinge an banalen Infektionen sterben; die Einführung des staatlichen Rentensystems hat dazu geführt, dass man im Alltag nicht an jeder Ecke mit einem Alten in halbverhungertem Zustand konfrontiert wird; Arbeitgeberwillkür sollte begrenzt sein; die Krankenversicherungspflicht sorgt dafür, dass jeder die Chance hat, sich in Krankheitsfall behandeln zu lassen usw., usf.“ (ebd.)
Weniger einverstanden bin ich allerdings mit dem von Simon hier konstruierten Gegensatz: Wieso sollte die Feststellung was keinesfalls sein sollte, utopische Überlegungen darüber verunmöglichen, welche Gesellschaft wünschenswert wäre? Wie der hier von mir verfasste Beitrag vielmehr zeigen soll: Hoffnung ist nach meinem Verständnis eben so zu konzipieren, dass beiden Überlegungen Platz einzuräumen wäre. In einem derartigem „Sowohl-als-Auch“ ist die vielleicht beste Möglichkeit zu finden, weder durch Fatalismus (als mögliche Konsequenz der Dystopie) noch durch Optimismus (als Konsequenz von Utopie) daran gehindert zu werden, sich aktiv in realistischer Einschätzung von Gefahren und entlang positiv bewerteter Zieldimensionen gemeinsam mit anderen um Lösungen zu bemühen.

(8) Horkheimer, M. (1938): Montaigne und die Funktion der Skepsis. In: Gesammelte Schriften, hrsg. von Schmidt, A. und Schmid-Noerr, G., Frankfurt (Fischer) Bd. 4, S. 294

(9) Jonas, H. (1979): Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt (Suhrkamp) 1979

(10) Solche schlüssig formulierten, skeptischen Einwände gegenüber Lösungen, die weiterhin die Prinzipien des spätmodernen Kapitalismus fortschreiben, finden sich bspw. bei Paech, N. (2016): Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. 9. Auflage, München (oekom) 2016

(11) Siehe dazu Zimmerli, W. (2009): Philosophie - Kläranlage der Gesellschaft. In: Der blaue Reiter - Journal für Philosophie (Sonderausgabe) Philosophie im Gespräch II. Stuttgart (Omega) 04/2009, S. 42

(12) Der Begriff des „Schattens“ findet sich in diesem Zusammenhang  bei Herbert Pietschmann, der darauf hinweist, dass bei Vorliegen von „Aporien“ (wie das bei dem Gegensatzpaar Utopie-Dystopie der Fall ist), nur dialektisches Denken eine klare Unterscheidung ohne Trennung wie zugleich eine Vereinigung beider Seiten ohne Egalisierung ermöglicht. Im Streitfall, wie bspw. zwischen Zuversicht und Krisenbewusstsein, kommt es häufig allzu schnell zum „Sturz in den Schatten“ der Zuversicht, die dann durch übertriebenes Abgrenzungsstreben gegenüber der Dystopie entweder im illusionär-optimistischen Machbarkeitswahn oder ganz gegenteilig im gutgläubig-vertrauenden Nichtstun landet, so wie andererseits auch die ursprünglich realistische Risikoeinschätzung in den eigenen spezifischen Schatten stürzt und sich nur mehr in apokalyptischer Rhetorik verliert und durch die damit produzierte Endzeitstimmung sicher keine Hoffnung mehr wecken kann. Andere Beispiele für derartige Dynamiken finden sich bei Pietschmann, H. (2016): Eris & Eirene - Anleitung zum Umgang mit Widersprüchen und Konflikten. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien (Ibera) 2016

(13) Zum Begriff der tendenziösen Apperzeption siehe: Datler, W. / Reinelt ,T. (1989): Das Konzept der tendenziösen Apperzeption und seine Relevanz für das Verständnis von Beziehung und Deutung im therapeutischen Prozeß. In: Reinelt T.,  / Datler, W. (Hg): Beziehung und Deutung im psychotherapeutischen Prozeß. Aus der Sicht verschiedener therapeutischer Schulen. Berlin (Springer), 73–88

(14) Siehe dazu Illies, F. (2019): Im Zickzack zum 90. Geburtstag. Wie Hans Magnus Enzenberger Deutschland auf Kurs hält. Open access: https://www.zeit.de/2019/46/hans-magnus-enzensberger-schriftsteller-geburtstag-debatten-unersetzlichkeit, (online am 3.8.2020)

(15) Siehe dazu Zimmerli, W. (2009), a.a.O., S. 43

(16) Siehe dazu Musil, R. (1930): Der Mann ohne Eigenschaften. Band 1, Berlin (Rowohlt) 1930, S. 16

(17) Ein solches Vorgehen scheint gerade aktuell so bedeutsam, gibt es doch (seit dem berühmt-berüchtigtem Diktum Margret Thatchers: „There is no alternative!“) nach wie vor die (selbstverständlich irrige) Bemerkung, bestimmte Werthaltungen des Wirtschaftssystems seien „alternativlos“. Damit wird der so durchschlagende Erfolg des Neoliberalismus als „Anti-Utopie“ erkennbar. Werden die bestehenden Bedingungen als die „besten aller Welten“ betrachtet und zugleich auch noch behauptet, man könnte ökonomische Systembedingungen, die man quasi „naturgesetzlich“ versteht, eben nur als Tatsache akzeptieren, erübrigt sich tatsächlich jeder weitere Zukunftsentwurf. Diese Haltung ist der wohl bedeutsamste Beitrag zur „Postpolitik“, die als eine der bedeutsamsten Ursachen der aktuellen Vielfachkrise erkennbar wird. (Siehe dazu insbes. Crouch, C. (2003): Postdemokratie. Berlin (Suhrkamp) 2003; oder Blühdorn, I. (2013): Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Berlin (Suhrkamp) 2013)

(18) Vgl. dazu: Saage, R. (2015): Auf den Spuren Utopias. Stationen des utopischen Denkens von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Berlin-Münster-London-Wien-Zürich (LIT-Verlag) 2015

(19) Vgl. dazu: Gramsci, A. (1935): Gefängnishefte. Band 9, Heft 28 (1935), Hamburg (Argument-Verlag) 1999, S. 2232

(20) Siehe dazu: Sedmak, C. (2020):  hoffentlich. Gespräche in der Krise. Innsbruck (Tyrolia) 2020, S. 70f

Fotos/ Bilder: pixabay

 

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