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Wenn die „Normalität“ zur Dystopie wird. Anmerkungen zu bereits erkennbaren und möglichen Auswirkungen der Corona-Krise

Am 7. Jänner 2020 fordert Chinas Präsident Xi Jinping im Politbüro der Kommunistischen Partei, eine Epidemie zu verhindern, am 9. Jänner stirbt der erste Corona-Patient. In den ersten Reaktionen wird im typischen Modus autoritär verfasster Systeme versucht die drohende Gefahr zu bagatellisieren bzw. zu vertuschen. Die breite Öffentlichkeit erfährt erst einige Tage später von der drohenden Gefahr und wird dann gleich mit dem Aufruf zum „Volkskrieg“ konfrontiert. Am 11. Jänner wird die 11-Millionen-Stadt Wuhan abgeriegelt. Die weitere, schließlich weltumspannende Entwicklung ist bekannt und führt letztendlich dazu, dass am 11. März Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Generalsekretär der WHO, Covid-19 zur Pandemie erklärt.

In der Folge ergibt eine politische Entscheidung nach der anderen in historisch seltener Direktheit, existenzielle Eingriffe in die konkrete Alltagsgestaltung von Personen.

Politik hat immer schon über Lebensläufe von Menschen im höchsten Maße mitentschieden; noch nie allerdings erfassten diese Entscheidungen in einer derartigen Geschwindigkeit derartig viele Personen in beinahe lückenloser Weise weltweit. Unübersehbar ändert sich seit Wochen Schritt für Schritt die Lebensgestaltung von uns allen. Das ursprünglich „Normale“ rückt in immer weitere Ferne. Eben dieser zunehmende Abstand ergibt neue Perspektiven auf so manche Selbstverständlichkeit des Alltags, lässt deren Prämissen erkennen und eröffnet damit plötzlich Alternativen oder (hoffentlich) die Erkenntnis zwingender Notwendigkeiten.

neue-normale-weltAlleine schon diese Tatsache, dass in tatsächlich allen Weltgegenden die konkrete Lebenspraxis von Personen in vergleichbarer Weise direkt betroffen ist, sich also Gemeinsamkeiten über alle Weltauffassungen, politischen Systeme und Gesellschaftsordnungen hinweg ergeben, macht unmissverständlich klar, dass wir gerade eine Zeitenwende erleben. Unhintergehbar ergibt sich ein „Vorher“, welches völlig geschieden ist vom „Nachher“. Öffentliche Äußerungen ohne Bezugnahme auf die Covid-19-Pandemie sind geradezu unmöglich geworden.

Wie sehr unser ehemaliger Lebensalltag plötzlich zu einer fernen Utopie zu werden scheint, zeigt beispielhaft das neue Wording der österreichischen Bundesregierung, die ihre erste Rücknahme von den vielfältig einschränkenden Präventivmaßnahmen, verheißungsvoll mit der Aussicht auf eine „neue Normalität“ ankündigt.

Normalität - Utopie - Dystopie

Plötzlich problematisch gewordene Facetten bisheriger „Normalität“ ergeben eine Gesamtkulisse, vor deren Hintergrund es zutreffender wäre, nicht von einer „Utopie“, sondern besser von einer „Dystopie“ zu sprechen.

Das Virus evoziert eine ungeahnte Vielfalt von unterschiedlichsten (negativ wie positiv bewertbaren) Effekten, deren Aufzählung hier nur kursorisch bleiben kann

- nicht nur:

  • bedrückendes zusätzliches menschliches Elend im globalen Ausmaß;
  • kollektiv geteiltes, individuelles Entsetzen, tiefe Ängste, irrationales Verhalten und ebensolche Verschwörungstheorien;
  • grundrechtsrelevante Einschränkungen als typisches Merkmal von Notstandszeiten, eine damit verbundene beunruhigend erstarkte Rolle der Exekutive und also eine Destabilisierung der ohnehin fragil gewordenen Gewaltenteilung in demokratisch verfassten Staaten;
  • erschreckend kaltblütigen politischen Opportunismus, indem reale Gefahren zum willkommenen Anlass werden, Feindbilder zu schaffen oder zu verschärfen, kritische Medien zu schwächen oder Opposition überhaupt gleich zu verunmöglichen;
  • Wiedererstarken oder Verstärkung von nationalstaatlichen Isolationsbestrebungen trotz ehemaliger, vorrangig handelspolitisch motivierter Globalisierungseuphorie bis hin zu völlig unsolidarischen „Nation-First“-Parolen und dadurch „legitimiertes“ Konkurrenzverhalten, das lebensrettende Hilfslieferungen in weniger zahlungskräftige Volkswirtschaften verhindert,

- sondern auch:

  • an vielen, vorher nicht vermuteten Stellen, berührende Belege dafür, zu welchem Ausmaß an Solidarität, Rücksichtnahme und prosozialer Zuwendung wir Menschen potentiell fähig sind;
  • in vermutlich irreversibles Gegenseitigkeitsbewusstsein (eben nicht nur in einem bedrohlichem Sinn, indem jedes Gegenüber ein Virenträger sein könnte, sondern indem deutlich wird, wie sehr wir füreinander bedeutsam und verantwortlich sind);
  • ein Abrücken von bislang dogmatisch vertretenen Positionen im politischen Kontext;
  • eine solcherart ermöglichte, ungeahnte Reaktionsgeschwindigkeit politischer Instanzen bei der Entwicklung kollektiv bindender und im tiefsten Wortsinn „not-wendiger“ Entscheidungen;

und vor allem:

  • eine faszinierende Präzision in Hinsicht auf die schonungslose, fast lückenlose Aufdeckung von aktuellen systemischen Schwächen, Irrwegen, Gefahrenpotentialen, vielfältigen Krisenherden und global verfassten Sozialpathologien.

Vielschichtige Symptomatik - unangenehme Wahrheiten

Das Virus produziert nicht nur physiologisch das so beängstigende Symptom zunehmender Atemnot, sondern auch auf der weltgesellschaftlichen Ebene mit atemberaubender Geschwindigkeit eine so vielschichtige Symptomatik, dass der gefährlich „erfolgreichen“ weil bislang weitläufig ungehinderten Weltzerstörung entlang spätmodern-kapitalistischer Grundprämissen womöglich jetzt endgültig die Luft ausgeht. Diese nun verschärfte Symptomatik eröffnet völlig überraschend als eine Art diagnostischer Vorbedingung enorme Chancen zur vielleicht doch noch glückenden Weltrettung.

Bei den durch das Virus hervorgetriebenen unangenehmen Wahrheiten ist natürlich zuallererst an Befunde zu denken, die sich in Hinsicht auf das im Moment so strapazierte Gesundheitssystem geradezu aufdrängen. So wird beispielsweise der so angstbesetzte Begriff der „Triage“, der plötzlich ins Alltagsbewusstsein geraten ist, als zutreffende Beschreibung einer ohnehin schon täglich zu beklagenden Praxis erkennbar, wenn man sowohl an die Auswirkungen der „Zweiklassenmedizin“ im Rahmen von Volkswirtschaften, als auch an die verheerenden Auswirkungen unterschiedlicher Chancen zur Partizipation an medizinischen Errungenschaften im globalen Maßstab denkt. Überdeutlich und wohl allen nachvollziehbar wird schließlich noch die Erkenntnis, wie unverantwortlich und fahrlässig es war, ein öffentliches Gesundheitssystem entlang ausschließlich ökonomisch verfasster Kriterien zu bewerten und zu gestalten. Gerade die an dieser prekären Stelle so offenkundig gewordene Vulnerabilität verdeutlicht die prinzipiellen Gründe für erschreckende Fehlentwicklungen eines weltumspannenden Systems.

Die Chancen steigen, dass so manche als „alternativlos“ getarnte Prämisse für politische Entscheidungen als grundlegender Beitrag zu einer (post-)politischen(1) Normalität entlarvt wird. Eine systematische betriebene Massenindoktrination(2), die eine beinahe schon im „religiösem“ Modus verfasste Ideologie neoliberalen Wirtschaftens als „Gesetzmäßigkeit“ behauptet und damit verschleiert(3), tritt noch deutlicher ins allgemeine Bewusstsein.

Solche und andere zu Tage getretenen Fehlentscheidungen des politischen Personals von nach wie vor im Hintergrund agierenden Machtzirkeln verweist auf die vermutlich tiefste Krise unseres aktuellen Gesellschaftssystems - der Demokratievermeidung. Vielleicht, so könnte man hoffen, wird nun einer größer werdenden zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit bewusst, dass partizipatorische Demokratie als die wohl bedeutsamste zivilisatorische Errungenschaft mittlerweile nur mehr simuliert wird. Vor dem Hintergrund der aktuell gegebenen und überdeutlich sich abzeichnenden Krisenvielfalt mitsamt dringlichen Handlungsnotwendigkeiten, werden Ablenkungsmanöver durch Symbolpolitik in ihrer immer schon gegebenen Lächerlichkeit nun besonders offenkundig. Könnte man jetzt noch eine vergleichbare mediale Aufmerksamkeit und Akzeptanz für berittene Polizeieinheiten oder für ein Verbot von Führerscheinprüfungen in türkischer Sprache finden? Vom Vermummungsverbot zur Maskenpflicht, so könnte man exemplarisch besonders absurde Bestimmungen der vergangenen Gesetzgebungsperiode in Österreich kennzeichnen.

So manche aktuelle Corona-(Anlass-)Gesetzgebung verdeutlicht, dass die mittlerweile in Pressekonferenzen tröstend in Aussicht gestellte „Rückkehr zur Normalität“, erstens an Attraktivität verlieren könnte und zweitens mittlerweile ohnehin unmöglich wird. Unmöglich nicht nur wegen irreversibler wirtschaftlicher Entwicklungen und anhaltenden Gesundheitsrisiken, sondern auch wegen global(!) zumindest ähnlich gelagerten persönlichen Erfahrungen und daraus entspringenden Erkenntnissen, die vermutlich unauslöschlich sind und neue Blickwinkel ergeben.

changeIn meiner im Remote-Modus fortgesetzten Beratungspraxis ist in beinahe jedem Gespräch zu hören, wie sehr die aktuelle Ausnahmesituation zu fundamentalen, persönlichen Relativierungen führt. Lebensentfremdende, bislang in ihrer permanenten Auswirkung noch unentdeckt gebliebene persönliche Axiome, die zu einer Alltagspraxis führen, die „man eigentlich nie so wollte“, werden genauso offenkundig, wie fundamentale Lebenslügen, ohnehin nie einzulösende Zukunftsvorstellungen oder der dringende Veränderungsbedarf in privaten wie beruflichen Beziehungen, die längst nur mehr aus Gewohnheit eine Fortsetzung finden.

Durchgängig und mit zunehmender Intensität lassen sich im Kontext meiner psychologischen Praxis tiefreichende Identitätsprobleme feststellen. Egal ob psychotherapeutische Begleitung, Coaching oder Supervision, meine Klient*innen beginnen Unsicherheiten zu beklagen, erleben Insuffizienzgefühle in Bereichen, die bislang fester Bestandteil des eigenen Kompetenzerlebens waren, vermissen durch die verordnete physische Distanzhaltung schmerzlich persönlichkeitsbestimmende, unmittelbare und nicht medial vermittelte, soziale Bezugnahmen durch persönlich bedeutsame Personen, leiden an fundamental erlebten Autonomieverlusten und sind also in Hinsicht auf zentrale psychologische Grundbedürfnisse bedroht(4).

Der erzwungene Ausnahmezustand wird vermutlich noch so lange andauern, dass so manche/r Angehörige privilegierter Gruppen auf Basis radikalen Reframings jetzt schon davon spricht, man sei an ein ohnehin schon lange ersehntes Sabbatical erinnert. Das führt, als typischer Effekt längerer Unterbrechung von Routinen, in solchen gesellschaftlichen Gruppen nicht selten zu einer radikalen Relativierung der Bedeutung von Arbeit.

Die davon völlig verschiedenen, prekären Konsequenzen in wirtschaftlich weniger begünstigten Teilen der Bevölkerung, führt ein weiteres Mal überdeutlich vor Augen, wie sehr es nach wie vor misslingt, trotz enormer Ressourcen zutiefst ungerechte Lebensverhältnisse in Hinsicht auf Arbeits,- Wohn-, Familien- und Einkommensbedingungen zu ändern.

Wie sehr sich an dieser Stelle ethisch nicht vertretbare, systemisch bedingte Problemlagen zeigen, wird alleine schon durch die entsprechende mediale Berichterstattung in Hinsicht auf Tätigkeiten deutlich, die zwar überaus berechtigt als „systemrelevant“ und „überlebenswichtig“ gekennzeichnet werden, gleichzeitig aber durch beschämend niedriges Einkommen und mangelnde soziale Anerkennung charakterisiert sind. Man denke in diesem Zusammenhang an die plötzlich mit öffentlicher Aufmerksamkeit bedachten Erntehelfer*innen, Reinigungskräfte in Krankenhäusern, Pflegepersonal oder mit verschiedenen Aufgaben betraute Personen im Lebensmittelhandel. Als Ausdruck unserer nach wie vor patriarchalen wie auch „imperialen“ Lebensweise(5) verwundert es dabei gar nicht, dass damit fast durchgängig Frauen und/oder Menschen mit Migrationshintergrund adressiert werden.

Diese Prognose ist vermutlich eine der treffsichersten: Die sozialen Fragen werden sich in absehbarer Zeit in zunehmend extremer Form stellen!globalisierung-earth-gesundheit

Wie schon erwähnt, einer der faszinierendsten Effekte des gegebenen Ausnahmezustands liegt genau darin, dass mit noch nie erlebter Plötzlichkeit, einer noch nie so umfassend erreichten Weltöffentlichkeit derart schonungslos, überdeutlich und beinahe lückenlos die Vielzahl der gegebenen Systemschwächen in Hinsicht auf Globalisierung, Demokratie, Menschenrechte, Wirtschaftsverhältnisse, Weltklima und Mitweltbelastungen, Weltgesundheit, globale Ungleichheitsbedingungen, Informationspolitik usw. usf. vor Augen geführt wird.

Ein kollektiv geteilter Lifestyle insbesondere in der westlichen Hemisphäre des Planeten gerät in seinen problematischen Aspekten nunmehr einer zunehmend wachsenden Menge zunehmend kritisch in den Blick.

Aus Sicht der beruflichen Perspektive als Berater, Psychotherapeut und Supervisor

Aus meiner spezifischen beruflichen Perspektive als Berater, Psychotherapeut und Supervisor fällt mir an dieser Stelle auf, dass sich Ähnlichkeiten zu einem Beratungsansatz finden lassen, die einen aus meiner Sicht immer schon gegebenen prinzipiellen Auftrag, nun noch klarer ins Bewusstsein rücken müsste. Ein personzentriert-humanistischer Ansatz von Beratung, wie er prominent von Carl Rogers(6) im vorigen Jahrhundert vorgelegt und mittlerweile vielfältig weiterentwickelt wurde, kann in radikaler Auffassung nur als eine Unterstützung zur kritischen Reflexion und damit aufdeckend verstanden werden. Versucht man ansatzgemäß fernab jeglicher expertokratisch-paternalistischen Haltung, die in beratenden Berufen so gefährlich naheliegend scheint, in zutiefst emanzipatorischer Absicht Personen in ihren je gegebenen Anliegen hilfreich zu unterstützen, dann kann das nur gelingen, wenn persönliches Empowerment dabei die Richtschnur bildet. Eine solche anspruchsvolle Unternehmung bedingt eine möglichst vorbehaltlose Hinwendung zu den jeweiligen persönlichen Wirklichkeitsauffassungen und konfrontierende, gemeinsam unternommene Bestandsaufnahmen von vergangenen oder aktuellen Lebensumständen mitsamt allen dazugehörigen emotionalen Facetten und potentiellen Bedeutungen für die eigene gegenwärtige und zukünftige Lebensgestaltung; - und damit also eine Form möglichst unerschrockener Reflexion.

Bedeutungsstiftende Empathie, die in ihrer effektivsten Ausprägung einer stellvertretenden Introspektion nahekommt, kann im Verbund mit gesellschaftskritischen Blickrichtungen bisher unbemerkt gebliebene, oder nur erahnte Strukturen erstmals oder eben klarer erkennen lassen. Es sollten Beschreibungen dialogisch sich entwickeln können, die, wenn sie kollektiv geteilt werden, letztlich verhaltenswirksam die eine oder andere Chance eröffnen gemeinsam andere Wege zu versuchen. Anspruchsvolle Reflexion führt immer zu Alternativen; - eine Aussage, die als existentialistisches Axiom jeder Beratung(7), deren potentiell subversiven Charakter verdeutlicht.

Schon lange vor der Corona-Pandemie ergab sich vor dem Hintergrund vielfältiger Krisen der spätmodern-kapitalistisch verfassten Weltgesellschaft ein Bedrohungsbild sowohl für unverzichtbare zivilisatorische Errungenschaften wie überhaupt für den Weiterbestand einer für Menschen bewohnbaren globalen Biosphäre. Wenn sie in bester personzentrierter Tradition als kritische Reflexion verstanden wird und tatsächlich Hilfe anbieten will, ergibt sich damit ein veränderter Existenzgrund für herkömmliche Beauftragungen im Kontext von Unternehmensberatung, Coaching oder Supervision. Geraten sie zur bloßen Unterstützung weiterer Optimierungsbemühungen im Rahmen ausschließlich wirtschaftlicher Zieldimensionen, dann können sie ethisch kaum mehr begründet werden. Unangenehme Fragen sind zu stellen, wie beispielsweise: Befördert eine friktionsfreie Dienstleistung für typische Beauftragungen eine weitere Ausbeutung individuell erlebter „Freiheit“ (8), ein Fortschreiben globaler Ungerechtigkeit (Stichwort „Externalisierungsgesellschaft“ (9)), eine fortgesetzte Massenindoktrination mit als „Gesetzmäßigkeit“ verschleierten Ideologien neoliberalen Wirtschaftens, die Verhinderung substantieller Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche (insbesondere auch im arbeitsweltlichen Kontext)? ...

Will man solche oder ähnliche eigene Beiträge zur Krisenverschärfung vermeiden, dann braucht es couragiertes Beratungshandeln, fernab missverstandener Neutralitätsanforderungen.

Beratung als „zeitgenössische Lebensteilung"beratung empathie altmann pixabay

Folgende Bedingungen für ethisch vertretbare Beratung sind dabei identifizierbar (10):

  • Empathie und Kongruenz (als Vorbedingung für die Wahrnehmung von leidbringenden Fehlentwicklungen),
  • Ambivalenztoleranz (als Fähigkeit unvermeidbare – auch eigene – Widersprüche im Bewusstsein halten zu können),
  • Selbstwirksamkeitserwartung (eine realistisch bleibende Einschätzung, dass eigenes Handeln signifikante Entwicklungsprozesse bewirken kann),
  • Durchbrechen des jeweils gegebenen Unmittelbarkeitsbezugs vor Hintergrund einer realistischen Zukunftsvision (als „Schutz“ gegen naheliegende Resignation und dem Verharren in operativen Problemstellungen ohne Aufdecken prinzipieller Entstehungsbedingungen),
  • Gegenseitigkeitsbewusstsein bei gleichzeitig prosozialer Orientierung (als verhaltenssignifikante Erkenntnis, dass nur eine solidarische Haltung sowohl Orientierungshilfe wie auch gesellschaftliche Wirksamkeit ermöglicht) und schließlich auch
  • Konfliktfähigkeit, Zivilcourage und kreativer Ungehorsam.

Nur durch diese Fähigkeiten bzw. Haltungen lassen sich die erwartbaren Auseinandersetzungen bei konsequenter und „schonungsloser“ Reflexion von immer deutlicher werdenden Aspekten unserer weltweiten Fehlentwicklungen in allen ihren Auswirkungen bis in konkrete, alltagspraktische Problemstellungen hinein, sinnstiftend und nutzbringend bewältigen.

Abschließend noch eine Anmerkung zum vorletzten Punkt - der nötigen Solidarität: Realisieren lässt sich nach meiner Erfahrung ein hier skizzierter Beratungsansatz am ehesten im radikal verstandenen Begegnungsmodus. Beinhaltet doch schon der (mittlerweile inflationär strapazierte) Begriff der „Begegnung“ ein Element des couragierten Dagegen-Haltens („Begeg[e]nung“). Begegnungsversuche ohne (Gegen-)Positionierung müssen scheitern, oder verfehlen zumindest ihre potentielle Wirkung. Impulse zur mitunter nachhaltig wirksamen Veränderung von Lebenspraxis, und damit zur wirklich effektiven Realisierung des Existenzgrunds von personenbezogener Beratung, gelingen dann, wenn sich die unentrinnbare, zeitgenössische Lebensteilung deutlich darin zeigt, eine gegebene eigene Betroffenheit durch beängstigende Entwicklungen nicht bloß abstrakt zu deklarieren, sondern in offener, mitmenschlicher und solidarischer Weise auch transparent zu offenbaren.

Gerade in der aktuell gegebenen Krisensituation, die tatsächlich jede Person betrifft, erlebe ich tägliche Bestätigungen, wie sehr dialogische Begegnung, das eigentliche Medium für Entwicklung darstellt. Sich vom Gegenüber als Person betreffen lassen, feinfühlig und achtsam persönliche Dimensionen aufzuspüren, gerade dann, wenn sie im „Subtext“ angstvoll verborgen sind, bedeutet wesentlich mehr als im professionell-distanzierten Modus bewährte sozialtechnologisch orientierte Interventionen zu setzen. Nimmt man die Gesamtheit der im Beratungsgeschehen beteiligten Personen in den Blick, dann ergibt sich die Herausforderung „in sich selbst“ geeignete Bedingungen zu schaffen, damit emotionale Resonanzen auf das Gegenüber dem eigenen Bewusstsein zugänglich und also mit innerer Beteiligung Personen und nicht etwa nur „Klient*innen“ oder „Kund*innen“ wahrgenommen werden können. Darüber hinaus gilt es, bei gleichzeitig bedingungsfreier Akzeptanz und Wertschätzung der anderen Person, dann auch die eigene persönliche Betroffenheit ins Spiel zu bringen. Existenzielle Dimensionen, die bei entsprechend sorgfältiger Hinwendung zur Person ohnehin in jedem Lebensmoment zu entdecken sind, sollten gerade jetzt, in der so ungewöhnlichen Krisensituation, weder bei sich selbst noch beim Anderen übersehen werden. Sie offen, gerade auch in der eigenen persönlichen Tönung anzusprechen, kann mitmenschliche Begegnungsmomente ermöglichen. Solche Momente und seien sie nur als Augenblick erfahrbar, führen zu Entwicklungen, deren Qualität geradezu brückenlos geschieden ist, von den erzielten Effekten im Anschluss an eine souverän und routiniert angewandte Beratungstechnik.

Begegnung bedeutet dabei dann eben auch dem jeweiligen Gegenüber eigene Positionen zu solchen Fragestellungen zuzumuten, die uns als gesamte Menschheit betreffen. Das kann Konfrontation, Konflikt und Auseinandersetzung bedeuten, die dann zu positiven Entwicklungen führen können, wenn sie auf einem mitmenschlichen Gegenseitigkeitsbewusstsein eine sichere Basis finden. Enthaltsam als Person „außen vor“ bleiben zu wollen, ist als Bemühung bei existenziell bedeutsamen Fragen, wie sie sich gerade heutzutage so dringlich stellen, erstens ohnehin vergeblich und zweitens zutiefst unsolidarisch.dialog

Die hier vorgetragenen Anforderungen können in eine Qualität von Beziehung münden, die im Kontext des Personzentrierten Ansatzes auf Basis empirischer Forschung als die notwendigen und hilfreichen Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung identifiziert werden konnten(11).

Die dazu nötigen inneren Haltungen erfordern zweifellos immer wieder Durchhaltevermögen um die Konfrontation mit unangenehmen Gefühlslagen als Folge von erlebten Unverfügbarkeiten(12), Unzulänglichkeiten und eigenen wie auch fremden Angstdynamiken ertragen zu können. Eine authentisch realisierte Offenheit für unvorhersehbare Entwicklungen sollte vor dem Hintergrund einer interessierten persönlichen Anteilnahme in Erwartung von immer wieder überraschenden sozialen Reaktionen gegeben sein. Schließlich ist dann noch ein Mindestmaß an Unerschrockenheit im Rahmen einer genauso achtsam-einfühlenden wie kritischen Hinwendung zum wesensmäßig „Anderen“ unverzichtbar und wird hier nicht nur als mutige Öffnung gegenüber möglichen und nötigen Alternativen mit lebensverändernden Konsequenzen verstanden, sondern auch im Sinne einer möglichst umfassenden Vergegenwärtigung der mich in „Anspruch“ nehmenden Person meines Gegenübers.

Führt im aktuellen Krisenfall diese durch dialogische Begegnung gemeinsam unternommene, aufdeckende Reflexion (wie eingangs angedeutet) zur Erkenntnis, dass eine in fernen Abstand geratene „Normalität“ zunehmend als „Dystopie“ beschreibbar wird, dann kann das auch Anlass zur Hoffnung sein. So meinte etwa die kürzlich verstorbene ungarische Philosophin Agnes Heller, dass uns Utopien womöglich sehr viel eher zum Warten verführen als Dystopien, letztere hingegen könnten uns schlussendlich vielleicht doch zum Handeln bewegen.

© Peter Frenzel, 20.04.2020, www.tao.co.at


Literatur und Anmerkungen:

(1) Vgl. dazu z.B. Crouch, C. (2003): Postdemokratie. Berlin (Suhrkamp) 2003; oder Blühdorn, I. (2013): Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Berlin (Suhrkamp) 2013

(2) Vgl. dazu z.B. Mausfeld, R. (2018): Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören. Frankfurt (Westend) 2018

(3) Vgl. dazu z.B. Ötsch, W.O. (2019): Mythos Markt. Mythos Neoklassik. Das Elend des Marktfundamentalismus. Marburg (Metropolis), 2019; oder Felber, C. (2019): This is not Economy. Aufruf zur Revolution der Wirtschaftswissenschaften. Wien (Deuticke) 2019

(4) Vgl. dazu Ryan, R.M. & Deci, E.L. (2002): Overview of self-determination theory: An organismic dialectical perspective. In: Ryan, R.M. & Deci, E.L. (Hg.): Handbook of self-determination research. The University of Rochester Press, Rochester, N.Y. 2002, S.3-36

(5) Vgl. Brand, U. & Wissen, M. (2017): Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München (oekom) 2017

(6) Vgl. Rogers, C.R. (1973): Die Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart (Klett-Cotta). Original erschienen 1961: On Becoming a Person. A Therapist’s View of Psychotherapy, Boston (Houghton Mifflin) 1961

(7) Zum Begriff des „existenzialistischen Axioms“ siehe Howard, N. (1971) Howard, N. (1971): Paradoxes of Rationality: Theory of Metagames and Political Behavior. Cambridge-London (M.I.T. Press) 1971; oder Watzlawick, P., Weakland, J.H., Fish, R. (2013): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. 8. Aufl., Bern (Huber) 2013, S.145f; dabei wird im Kontext der Spieltheorie darauf aufmerksam gemacht, dass das Wissen um die Spielregeln eine entscheidende Bedeutung für den Ausgangs des Spiels hat.

(8) Vgl. dazu Han, B.-C. (2015): Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt (Fischer) 2015

(9) Vgl. dazu Lessenich, S. (2016): Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. Berlin (Hanser) 2016

(10) Frenzel, P. (2007): Ethik und Management. Oder: Anständige Entscheidungen in zwingend(?) unanständigen Bedingungen. In: Böhnisch, W. / Reber, G. / Leichtfried, G. / Hechenberger, D. (Hrsg.), Werteorientierte Unternehmensführung in Theorie und Praxis (S. 25-75). Frankfurt a. M.: Verlag P. Lang.

(11) Vgl. Rogers, C.R. (1957): The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change, in: Journal of Consulting Psychology 21,2 (1957) 95–103; dt.: Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie, in: Rogers/Schmid 1991, 165–184

 (12) Vgl. dazu Rosa, H. (2018): Unverfügbarkeit. Wien-Salzburg (Residenz) 2018

Bilder und Fotos:

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