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Kompliziert? Komplex? Oder schon chaotisch? - Das "Cynefin Framework" als Orientierungshilfe für Führungskräfte

Peter Frenzel,

"Die meisten Probleme entstehen bei ihrer Lösung." Leonardo da Vinci

Die Rede von der zunehmenden „Komplexität“, des immer „komplizierteren“ Arbeitsalltags, der ständig steigenden Veränderungsdynamik, den nicht mehr überschaubaren Umwelten von Organisationen, ist allgegenwärtig. Meist findet sich schon im Vorwort so gut wie jeder Publikation im Kontext der Managementlehre die „gestiegene Komplexität“ als die größte Herausforderung für Führungskräfte. Es mehren sich Aussagen, dass die wirtschaftliche Gesamtsituation in den entwickelten Industrienationen ein Ausmaß an „Dynaxität“[1] erreicht hat, für das die bio-psycho-soziale Grundausstattung der davon besonders betroffenen Menschen schlichtweg nicht geschaffen scheint.

Unsere Intelligenzkapazitäten können sich nicht mehr ausreichend schnell mitentwickeln. Das Bild der allgegenwärtig gewordenen „run-away-systems“[2] generiert eine gesellschaftsweite Gesamtstimmung, die resignativ und überfordert wirkt und niemanden mehr ernsthaft glauben lässt, Spitzenvertreter*innen aus Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft würden die entstandene Dynamik verstehen, geschweige denn „im Griff“ haben. Was für die Eliten - bzw. für deren Spitzenpersonal - gilt, ist für die einzelnen Mitarbeiter*innen im omnipräsenten Getriebe unserer mittlerweile großflächig im Rahmen von Organisationen verfassten Zivilisation ohnehin völlig evident. Alltägliche Überforderungsphänomene durch nicht mehr enden wollenden Optimierungsdruck, völlige Entgrenzung von Arbeit und Privatsphäre, permanentes Stresserleben sowohl im Arbeitskontext, wie auch in der Freizeit, gesteigert und symptomatisch erkennbar im Anwachsen von Burn-Out-Krisen sprechen dazu eine klare Sprache. Zunehmend, so könnte man im Hinblick auf die global verfasste Kulturentwicklung im spätmodernen Kapitalismus meinen, entwickelt sich die Situation in Richtung chaotisch anmutender Dynamiken.

In dieser hier nur kurz angedeuteten Diagnose gesamtgesellschaftlicher und damit untrennbar verbundener wirtschaftlicher Entwicklungen, wie sie in der nunmehr ebenso unüberschaubar gewordenen Fülle von damit befasster Literatur zahlreich und in unterschiedlicher „Tiefe“ verfügbar ist, finden sich verschiedene Begriffe, die es wert sind, genauer definiert zu werden.

In welchen Situationen ist es tatsächlich sinnvoll über „Komplexität“ zu sprechen? Ist dieses Wort nicht schon längst derartig inflationär benutzt, dass es zunehmend zu einem „Containerbegriff“ wird, der für hilfreiches Weltverständnis und damit als Ausgangspunkt für Handlungen nichts mehr taugt? Ergeben sich nicht durch die aus einer gesamtgesellschaftlichen Stimmung heraus entstandenen Wahrnehmungspräferenz, beinahe schon alles als „komplex“ zu bezeichnen, Handlungen oder - womöglich noch schlimmer - resignativ unterlassene Lösungsversuche, die dann tatsächlich alles noch „komplexer“ machen, als es ursprünglich hätte werden müssen? Unterbleiben nicht dadurch womöglich für „nur“ kompliziert verfasste Situationen situativ ausreichende Entscheidungsstrategien? Wann ist eigentlich eine Problemsituation zutreffend als „kompliziert“ zu bezeichnen, und welche Entscheidungsstrategien bieten sich in solchen Momenten an? Oder umgekehrt: Werden nicht immer wieder durch eine Art angstvoll versuchter „Blickverweigerung“ entstandene Problemsituationen verkürzt, weil monokausal erklärt, als eigentlich „letztendlich ja doch recht einfach“ beschrieben, nur um dann - vorerst erleichtert - persönlich präferierte Lösungsstrategien anwenden zu können, die sich routiniert und mit erworbener Kompetenz und Erfahrung abwickeln lassen? In welchen Momenten bewähren sich die ja nicht umsonst als „best-practice“ bezeichneten Vorgehensweisen tatsächlich? Welche Merkmale ergeben eigentlich eine relativ strukturierte Problemsituation, in der Routinen die beste Lösungsmöglichkeit bereitstellen? Und schließlich, was lässt sich tun, wenn sich eine Situation zunehmend bedrohlich in Richtung „Chaos“ entwickelt? Welche Situationsbedingungen kennzeichnen eine solche gefährliche Entwicklung und was sollte man dann unternehmen?

Das „Cynefin-Framework“ in Grundzügen

Mit genau solchen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich ein schon 2000 in ersten Ansätzen von Dave Snowden[3] ursprünglich entwickeltes sog. „Cynefin-Framework“[4], dessen Bekanntheitsgrad 2007 durch einen Artikel in der Harvard Business Review[5] zum Thema „Führung“ signifikant anstieg. Erstaunlicherweise ist dieser tatsächlich äußerst hilfreiche Ansatz zur Erstdiagnose bestehender Problemkontexte (deskriptiver Aspekt) mitsamt daran anknüpfenden Hilfestellungen zur Entwicklung situationsangemessener Entscheidungsstrategien (normativer Aspekt) im deutschen Sprachraum nicht wirklich prominent rezipiert.

Eine oftmalige Vorbemerkung von Dave Snowden selbst ist der Hinweis, dass es sich dabei um ein „Framework“ im Sinne eines „Sense-making model“ und nicht um ein Kategorienmodell handelt. Letzteres wird dabei in traditioneller Weise so verstanden, dass sich entlang von zumeist zwei Dimensionen eine Vierfeldermatrix ergibt, indem jede der beiden jeweils behandelten Dimensionen oder Variablen in entweder stärkerer oder schwächerer Ausprägung vorliegen kann, was dann eben vier verschiedene Kombinationen ergibt. Das ermöglicht zwar schnelle Zuordnungen (Stichwort: Susumptionslogik), die Gefahr dabei ist allerdings, dass feine Unterschiede auf Kosten der Verständnistiefe verloren gehen. Außerdem „produzieren“ die Kategorien gewissermaßen eine spezifische Wahrnehmung. Ein kategoriales System „beschreibt“ die Wirklichkeit eben nicht nur, sondern schreibt ihr gewissermaßen etwas „vor“. Damit ergibt sich so etwas wie ein „labeling approach“ in Hinsicht auf Daten; um eine sehr prominent gewordene Definition von „Information“ (Bateson 1985, 488) hier anzuwenden: der „Unterschied, der einen Unterschied macht“, geht hier von den vorgeschlagenen Kategorien aus.

Das „Cynefin-Framework“ als ein „sense-making model“ sollte demgegenüber so verstanden werden, dass aus den zu untersuchenden „Daten“ die spezifische Rahmung der gegebenen Situation „emergiert“. Der unterschiedsgenerierende Moment liegt hier also idealerweise in den „Daten“, die erst nachdem sie erhoben wurden, durch Anwendung des theoretischen Rahmens ein spezifisches Gesamtbild ergeben. Entsprechend wurden übrigens konkrete Vorgehensmodelle entwickelt, wenn es um das gemeinsame(!) Verständnis gegebener Situationen geht, wie bspw. ein episodisch-anekdotischer Zugang (ohne vorherige Darstellung des Modells) in der Phase der Bestandsaufnahme verbunden mit einer anschließenden visualisierten Platzierung der in den konkreten Episoden enthaltenen Aspekte in jeweiliger Nähe zu spezifischen diagnostischen Fragestellungen[6].

Wie wurde das „Framework“ nun kategorial entwickelt? In einem ersten Schritt wurden drei basale Systemausprägungen oder „Kontextbedingungen“ unterschieden (auch als „Domänen“ bezeichnet): „geordnete Systeme“ (ordered Systems)“; „komplexe Systeme“ und „chaotische Systeme“.

Eine weitere Systemausprägung wurde aus dem logischen Gegenbegriff zum „geordneten System“ gefunden und demgemäß „Disorder“ benannt, dieser Begriff bleibt auch in den deutschen Darstellungen meist unübersetzt. Die ursprünglich als „geordnetes System“ benannten Kontextbedingungen wurden schließlich in zwei verschiedene Begriffe gebracht: das „einfache (oder simple) System“ und das sogenannte „komplizierte System“.

Das ergab schließlich vorerst folgende Darstellung:

Problemdomänen

Abb. 1 (in Anlehnung an Snowden/Boone, 2007)

Der vorgestellte Rahmen hilft gegebene Problemsituationen (bspw. eines Managementteams) fünf verschiedenen „Domänen“ zuzuordnen. Die unterscheidbaren Zonen, ergeben sich durch differenzierbare Formen der Beziehung zwischen (vermutbaren bzw. identifizierbaren) Ursachen und deren (mehr oder weniger) prognostizierbaren Wirkungen. Für vier dieser Zonen werden den Führungskräften, nach einer entsprechenden „Diagnose“, verschiedene situationsadäquate und kontextgerechte Entscheidungsstrategien empfohlen. Der fünfte Problemkontext („Disorder“) ist, zumindest in anspruchsvollen Aufgabenbereichen, der vermutlich am häufigsten gegebene: Die (noch) vorherrschende Unklarheit darüber, mit welchem der vier Problemsystemzustände man es in der gegebenen Situation eigentlich zu tun hat. Dort liegt sozusagen häufig der Startpunkt, an dem es gilt sich vorerst einmal Klarheit darüber zu verschaffen, womit man es zu tun hat.

Funktionen des „Cynefin-Frameworks“

Bevor auf die einzelnen „Domänen“ näher eingegangen werden soll, hier noch zusammenfassend einige Vorbemerkungen, in welcher Weise das Modell nutzbringend in Anwendung gebracht werden kann. Wozu kann es im Kontext von Management dienlich sein?

Diagnose

Eine erste Anwendungsmöglichkeit liegt vermutlich sehr augenscheinlich auf der Hand und wurde schon erwähnt: Es ermöglicht Führungskräften zu erkennen, in welcher Systemaus-prägung sich ein bestimmtes Problem darstellt; handelt es sich um z.B. eine „komplizierte“ Problemsituation oder schon um ein „komplexes“ Problemsystem? Dabei gilt gar nicht selten, dass manchmal schon die Problemdefinition bereits die „halbe Lösung“ ist. Albert Einstein hat diese Beobachtung einmal in die prägnante Formulierung gebracht: „Das Problem zu erkennen ist wichtiger, als die Lösung zu erkennen, denn die genaue Darstellung des Problems führt zur Lösung.“

Prävention

Bei Anwendung der sog. „Kontextualisierungsmethoden“ des Modells, die im Wesentlichen eine differenzierte Analyse und Zuordnung zu einem der Felder ermöglicht, kann die Führungskraft davor bewahrt werden, vorschnell eine Strategie zu wählen, die zwar in der Vergangenheit oft erfolgreich war, in der gegebenen Situation aber womöglich dem aktuellen Komplexitätsgrad der gegebenen Herausforderung nicht angemessen ist. Insofern lässt sich das Framework also auch als ein „präventives Modell“ verstehen, indem es hilft, typische Managementfehler im Umgang mit Komplexität zu vermeiden, die sich - wie zahlreich dokumentiert[7] - häufig daraus ergeben, ausgehend von immer wieder erfolgreich angewandten Denk- und Handlungsroutinen (Stichwort: „best pratice“) allzu einfache Lösungsstrategien in komplexen Situationen zu versuchen.
Es ist eben tatsächlich leider nicht selten die Aussage zutreffend: „Die häufigste Berufskrankheit ist die Betriebsblindheit.“

Abgesprochene Wirklichkeiten

Entlang einiger vorgestellter Diagnosemethodiken (wie oben schon kurz angedeutet) ermöglicht das Modell zudem eine gemeinsame(!), partizipativ unternommene Problembeschreibung, was häufig anzutreffende Konflikte vermeiden hilft, die sich durch unterschiedliche Einschätzungen innerhalb eines Managementteams ergeben, um welches Problem es sich handelt. Die verschiedenen Einschätzungen führen ja folgelogisch zu teilweise sehr unterschiedlichen Ideen darüber, welche Entscheidungs- oder Lösungsstrategie situativ zielführend sein kann.

Handlungsalternativen

Besonders wertvoll werden die im Modell vorgestellten, sehr konkreten Ansätze erlebt, wie man bei Vorliegen eines bestimmten Problemsystems strategisch am besten vorgehen sollte. Dazu gehören übrigens auch Empfehlungen aus dynamischer Sicht. Es gibt eben leider immer wieder Situationen, in denen es dringend angeraten ist, von einem gegebenen Problemsystemzustand (siehe die „chaotische Situation“) rasch in einen anderen zu wechseln. Auch dafür finden sich prinzipiell-strategische Empfehlungen, wie sich das - im Sinne antizipativen Managements -erfolgversprechend bewerkstelligen lässt.

Snowden/Boone (2007, 3) weisen noch darauf hin, dass das Modell mittlerweile sehr weitläufige Anwendungen in äußerst unterschiedlichen Kontexten gefunden hat, was der weiteren inhaltlichen Entwicklung des Modells natürlich sehr förderlich war. Erwähnt wird dabei z.B. die US-amerikanische „Advanced Research Projects Agency“, die das Modell im Rahmen der Terrorismusbekämpfung angewandt hat; die Metropole Singapur verwendet das Modell als Schlüsselkomponente in ihren Risikobewertungsprogrammen; es wird von Anwendungen pharmazeutischer Unternehmen bei der Entwicklung von neuen Produktstrategien berichtet. Es scheint also mittlerweile genügend Evidenz zu geben, dass das vorliegende Modell in der Praxis tatsächlich hält, was in der Theorie behauptet wird.

 

Problemkontext 1: „Disorder“

 

Disorder

Abb. 2: Domäne 1 - „Disorder“

Diese Problemkonstellation ist naturgemäß häufig anzutreffen, stellt sie doch gewissermaßen den Ausgangspunkt zur Anwendung des hier vorgestellten Modells dar. Sie ist durch folgende Merkmale zu charakterisieren:

Wie nachfolgend verschiedentlich ausgeführt wird, sollten Führungskräfte keinesfalls vorschnell zu zwar bewährten aber womöglich inadäquaten Problemlösungsstrategien greifen, sondern die im Cynefin-Framework vorgestellten Differenzierungsmöglichkeiten nutzen. Die wichtigste Methode dafür, das sog. „Contextualisation“-Vorgehen, wird weiter unten skizzenartig dargestellt.

Folgende prinzipiellen Ansätze könnten dazu ergänzend hilfreich sein:

Nachfolgend sollen die im Modell ausgewiesenen Felder („Domänen“) in Hinsicht auf ihre charakteristischen Situationsmerkmale beschrieben werden. Daran anknüpfend finden sich empfohlene, situationsangepasste Handlungsschritte und eine Reflexion von typischen Managementfehlern, die sich in derartigen Problemsituationen häufig beobachten lassen. Diese Analyse stützt sich dabei auf drei Quellen: Zum einen auf die Originalliteratur von Dave Snowden (2000, 2007), auf verschiedene andere facheinschlägige Publikationen und nicht zuletzt auf eigene Erfahrungen aus der Berufspraxis in der Managementberatung und dem Coaching von Führungskräften.

 

Problemkontext 2: „Einfache Systemzustände“

 

Einfache Systemzustände

Abb. 3: Einfache Systemzustände

 

Folgende Situationsmerkmale kennzeichnen typischerweise diese zweite „Domäne“:

Daraus ergeben sich folgelogisch empfohlene Schritte im Entscheidungsprozess:

  1. „wahrnehmen“ (Feststellen der gegebenen Fakten, Sammlung der nötigen Informationen)
  2. „kategorisieren“ (der Subsumptionslogik folgend werden die erhobenen Fakten dahingehend ausgewertet, welche Regel/Verwaltungsvorschrift oder Routine dafür vorgesehen wurde, bzw. welche bekannten Lösungen sich wieder anwenden lassen)
  3. „agieren“ (Anwendung der ausgewählten Routinewege bzw. „Best Practice“)

Die auf den ersten Blick so harmlos scheinende und Sicherheit vermittelnde Domäne birgt genau wegen dieser beruhigend wirkenden Aspekte beachtliche Gefahrenmomente. Viel zu häufig, das zeigt die Erfahrung, bedienen sich Führungskräfte genau dieser hier anempfohlenen Strategien, gerade weil sie eben so vertraut sind. Wie schon kurz erwähnt, hier sind die so zahlreich dokumentierten Krisenverläufe zu nennen, die sich durch eine Fülle von typischen Fehlermomenten im Umgang mit eigentlich als „komplex“ einzustufenden Problemsituationen ergeben.

Einige typische Fehler durch unpassend „simple“ Lösungen

Abschließend soll nach dieser sicher nicht taxativen Aufzählung der prominentesten Fehler im Umgang mit komplexen Problemsituationen noch auf einen nicht unbedeutenden Fehler im Führungsverhalten aufmerksam gemacht werden, der sich auf die Motivationslage der betroffenen Mitarbeiter*innen ungünstig auswirkt: das sog. „Micro-Management“, welches sich darin ausdrückt, allzu sehr sich als Führungskraft in operative Detailentscheidungen und Abläufe in der Realisierungsphase von Problemlösungen einzumischen. Ein solches Vorgehen kann sich gerade in dieser Domäne besonders ungünstig, weil implizit kränkend auswirken und belastet zudem unnötig das Zeitbudget des Führungsverantwortlichen.

 

Problemkontext 3: „Komplizierte Systemzustände“

 

Komplizierte Systemzustände

Abb. 4: Komplizierte Systemzustände

 

Folgende Situationsmerkmale kennzeichnen typischerweise diese dritte „Domäne“:

In solchen Situationen sind folgende Schritte im Entscheidungsprozess empfohlen:

  1. „wahrnehmen“ (Feststellen der gegebenen Fakten, Sammlung der nötigen Informationen)
  2. „analysieren“ (Entdecken relevanter Kausalketten durch fachgerechte Analyse)
  3. „agieren“ (Zielbildung und Priorisierung, Planung und Durchführung mit kontinuierlichem Monitoring)

Dazu noch einige kurze Erläuterungen:

ad 1.

Wie schon bei Vorliegen relativ einfacher Problemsituationen, geht es im ersten Schritt darum die bedeutsamen Fakten festzustellen. Dabei ist darauf zu achten, dass die dafür nötige Zeit auch tatsächlich investiert wird. Es ist also Vorsicht gegenüber einem allzu raschen Verständnis geboten. Will man sogleich erkannt haben, wo vermutlich „die Sache hakt“, können sich Fehler ergeben, wie sie oben schon dargestellt wurden. Empfehlenswert ist deshalb schon in der Phase der Wahrnehmung größtmögliche „Multiperspektivität“ zur Entfaltung zu bringen. Das bedeutet, sich schon in der Vorphase der dann folgenden gründlichen Analyse nicht nur auf vereinzelte Meinungen zu stützen, was denn im Moment „nicht stimmt“, sondern schon hier mehrere Erhebungsgespräche mit verschiedenen Betroffenen zu führen.

Hilfreich könnte dabei auch der bekannte Grundsatz sein, der besagt, dass Probleme sich ja prinzipiell nur auf Basis erwünschter Zielzustände ergeben. Grundsätzlich lässt sich eben ein „Problem“ als eine Situation verstehen, in der eine Spannung zwischen einem gegebenen „Ist“ und einem erwünschten „Soll“ besteht. So sollte schon in dieser ersten Phase darauf geachtet werden, ob denn die in der ersten Problembeschreibung - zumindest implizit - enthaltenen Zielvorstellungen auch tatsächlich erstrebenswert sind. Manche „Probleme“ sind durch eine sinnvolle Veränderung der Zielvorstellungen zu lösen oder zumindest zu lindern.

Es könnte darüberhinaus schon in dieser Phase ratsam sein - in Vorbereitung auf die kommende Detailanalyse - darauf zu achten und zu notieren, inwieweit nicht die bis jetzt vorliegenden Problembeschreibungen durch deren impliziten Erklärungsansatz mit daraus sich ergebenden Aufmerksamkeitsfokussierungen einen Teil der Schwierigkeiten produzieren. Als Beispiel ist hier wieder die so häufige „Entkontextualisierung“ von Verhaltensweisen anderer zu nennen: „Das größte Problem ist das Projektmitglied XY, wäre er nicht Mitglied unseres Teams, dann würden wir vermutlich die Lösung längst schon gefunden haben. Man sollte also die personelle Zusammensetzung unserer Projektgruppe nochmals überdenken!“ Bei einer solchen Aussage ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine offenkundig ungünstige Gruppendynamik Energieverluste bedingt, dysfunktionales Verhalten evoziert, ungünstige Interaktionsmuster chronifiziert und die Konzentration auf die tatsächlich wichtigen Problemaspekte mindert.

ad 2.

Konnte nach dem ersten Schritt bestätigt werden, dass es sich um ein kompliziertes Problem handelt, dann gilt es die „richtigen“ Expert*innen zur nötigen Analyse und Lösungsfindung zu verpflichten. Um hier bekannte soziale Phänomene wie bspw. „Group Think“, „Entrapment“, dysfunktionale Gruppennormen, den „Risikoschub in Gruppen“ oder „soziales Trittbrettfahren“[11] möglichst hintanzuhalten, sollte die personelle Zusammensetzung der mit der Analyse befassten Gruppe sorgfältig überlegt werden. Kriterien wie ausreichende Diversität, hohe Qualität der bestehenden Arbeitsbeziehungen, Gruppengröße, interpersonale Kompetenzen der einzelnen Fachkräfte etc. sollten bei der Zusammenstellung beachtet werden.

Brougham (2015, 10f) empfiehlt in diesem Zusammenhang ähnliche Prinzipien und betont die Wichtigkeit in diese Analysegruppen auch Personen aufzunehmen, die in Hinsicht auf die bestehende Problematik insofern „naiv“ sind, als ihre Expertise andere Sachthemen betrifft. So können leichter originelle Ansätze zur Erklärung der komplizierten Sachlage entstehen.

Nicht unterschätzen sollte man dabei außerdem die damit einhergehenden Lerneffekte für alle Beteiligten und die Intensivierung von Arbeitsbeziehungen über die gesamte Organisation, indem Personen von unterschiedlichen „Standorten“, Arbeitsfeldern und Disziplinen im Interesse der größtmöglichen Diversität zur Analyse der komplizierten Problemsituationen herangezogen werden.

Hier gibt es seitens der Entwickler des Cynefin-Frameworks noch die Empfehlung, den Versuch zu unterlassen unbedingt die „ideale“ Variante möglicher Erklärungsalternativen identifizieren zu wollen. Diese Anstrengung ist häufig nicht nur vergebliche Mühe - bei komplizierten Problemen gibt es eben oftmals verschiedene, allesamt gleich taugliche Alternativen - nicht selten entstehen dabei auch mühsame Konfliktsituationen zwischen den damit befassten Expert*innen.

Es könnte ein pragmatischer Zugang aus dem Kontext konstruktivistischer Philosophie hilfreich sein, indem man erst gar nicht versucht dasjenige Analyseergebnis zu identifizieren, dass der (ohnehin nie letztgültig feststellbaren) „Wahrheit“ entspricht, sondern denjenigen Erklärungsansatz, der die größte „Viabilität“[12] aufweist, also - hier knapp formuliert - die Erklärung, die vor Hintergrund der Zielsetzungen einen ausreichend guten Weg (lat. „via“) eröffnet, wie das Problem zu lösen ist. Ein solches Vorgehen kann dann, mit den Worten von Dave Snowden, in der Domäne der komplizierten Systemzustände zu einer „good practice“ (anstelle der „best practice“-Ansätze) führen.
Erfahrungen aus der Beratungspraxis (z.B. mit Gruppensupervisionssettings oder Gruppencoachings) zeigen, dass in diesem Zusammenhang verschiedenste Beratungstechniken, die im Kontext von Psychotherapie und Supervision entwickelt wurden (wie bspw. die Technik des „Reflecting Teams“, systemische Fragetechniken und/oder verschiedene Externalisierungs- und Visualisierungstechniken) mit großem Gewinn auf die hier bestehenden Anforderungen adaptiert und angewandt werden können.

ad 3.

Nach der sorgfältigen Analyse, die - sollte es sich tatsächlich um ein kompliziertes Problem handeln - durchaus zeitaufwändig sein kann, gilt es davon ausgehend noch einmal die Ziele zu überprüfen, sie nötigenfalls anzupassen, zu priorisieren, ihre gegenseitige Beeinflussung (neutral-fördernd-hemmend-gegenläufig) zu bewerten, damit dann letztendlich die entsprechend nötigen Entscheidungen getroffen werden können.

Bei der Entscheidungsfindung ist zu beachten, dass die hartnäckige Erschwernis einen triftigen Erklärungsansatz zu finden oder die erarbeiteten Daten letztendlich keine ausreichende Basis für eine begründbare Entscheidung ergeben, Hinweise darauf sein können, dass es sich um ein komplexes und nicht um ein „nur“ kompliziertes Problem handelt.

Ein weiteres unverzichtbares Prinzip im Zusammenhang mit der Entscheidungsfindung findet sich in den zahlreich dokumentierten empirischen Befunden, die die Überlegenheit von partizipativen Vorgehen im Kontext komplizierter (wie auch komplexer) Probleme eindeutig zeigen. Ein autoritärer Führungsstil ist hier nicht angeraten, nicht nur wegen der damit verbundenen Gefährdung der inhaltlich-fachlichen Qualität der Entscheidung, sondern auch durch Missachtung der nötigen Akzeptanz und Tragfähigkeit für die folgende Umsetzung von Entscheidungen. In dieser Hinsicht gibt es mittlerweile zahlreiche, teilweise gut evaluierte Entscheidungsansätze wie bspw. das empirisch gut abgesicherte „Führungs- und Entscheidungs-modell von Vroom“[13], „systemisches Konsensieren“[14] oder gar umfassende Organisationsmodelle wie bspw. soziokratisch verfasste Kreisstrukturen[15], die die Tragfähigkeit und Qualität der zu treffenden Entscheidungen signifikant erhöhen.

Im Anschluss an einen definitiven Entschluss kann dann mit der nötigen Planung begonnen werden.

Auf die Planung folgt bekanntermaßen die Durchführung mitsamt der, gerade in komplizierten Sachlagen, immer bedeutsam bleibenden Aufgabe, kontinuierlich ein kritisches Monitoring der Fortschritte in wieder ausreichend divers zusammengesetzten Mehrpersonensettings zu unternehmen.

Für diese nächsten Phasen der Problemlösung kann es günstig sein, weitere Personen einzubeziehen bzw. damit zu befassen.

Einige typische Fehler im Bereich der „komplizierten Probleme“

 

Problemkontext 4: „Komplexe Systemzustände“

 

Komplexe Systemzustände

Abb. 5: Komplexe Systemzustände

 

Folgende Situationsmerkmale kennzeichnen typischerweise diese vierte „Domäne“:

 Typischerweise wird ein „komplexer Systemzustand“ als eine Art „Konglomerat“ aus hauptsächlich vier Situationsmerkmalen charakterisiert:

Nachdem in komplexen Entscheidungssituationen auch die Auswirkungen verschiedener Interventionen nur schwer (wenn überhaupt) vorhersehbar sind, wird häufig auch noch die

Wichtig scheint hier noch der Hinweis, dass nicht alle diese Aspekte zutreffen müssen und auch nicht das Ausmaß immer gleich hoch sein muss.

Ergeben sich aber vier oder mehr dieser potentiell möglichen Merkmale in Problem- oder Entscheidungssituationen, dann sind diese als „komplex“ zu bezeichnen, zumeist mit folgenden ganz konkreten Herausforderungen für die Entscheidungsverantwortlichen:

„Komplexität“ ist also - man könnte sagen „ironischerweise“ - selbst auch ein „komplexer“, weil schillernder Begriff. Nicht nur in einschlägiger Literatur findet man durchaus unterschiedliche Definitionen, auch und besonders in der Praxis wurde „Komplexität“ zu einem äußerst unterschiedlich und inflationär gebrauchten Wort, meist im Zusammenhang mit ächzenden Stoßseufzern gestresster Leute oder auch im Kontext von Rechfertigungsversuchen für (noch) nicht gelungene Auftragserledigungen.

Es gibt auch empirische Befunde dafür, dass bei der Frage nach Komplexitätsaspekten im Berufskontext in erster Linie die Menge an Produkten, Bauteilen oder Prozessen (Vielzahl) sowie ein damit verbundener Variantenreichtum (Vielfalt) genannt wird[19]. Wie schon erwähnt, diese beiden Dimensionen repräsentieren aber bei genauer Betrachtung „nur“ komplizierte Sachverhalte. „Komplexität“ entsteht erst dann, wenn ein Unternehmen oder eine Organisationseinheit zumindest zusätzlich noch mit vielschichtigen, häufig wechselnden Sachverhalten (Eigendynamik) umgehen muss, oder sich nicht mehr klar durchschaubare Zusammenhänge ergeben (Intransparenz). Kommen dann noch verschiedene gleich wichtige und sich widersprechende Ziele dazu („Polytelie“), dann lässt sich sehr berechtigt von einer „komplexen“ Situation oder Aufgabe sprechen.

An der bestehenden Unschärfe des Begriffs wird zudem ein weiterer, sehr wesentlicher Aspekt deutlich: Das Ausmaß an Komplexität entscheidet sich jeweils spezifisch aus Sicht der jeweils handelnden Person und kann daher selbstverständlich nur schwer objektiv gefasst werden. Schon deshalb empfiehlt es sich in der Praxis, die Einordnung in eine bestimmte Domäne des Cynefin-Frameworks möglichst gemeinsam mit mehreren davon betroffenen Personen zu versuchen.

Ist eine bestimmte Situation dann als „komplex“ eingestuft, sind nach dem Cynefin-Modell folgende Schritte im Entscheidungsprozess empfohlen:

  1. „ausprobieren“ (Exploration durch Experimente, d.h. Entwurf und Durchführung von „Versuchsdesigns“ auf Basis von verschiedenen(!) Ersthypothesen)
  2. „wahrnehmen“ (Sinnhaftigkeit und „Treffsicherheit“ der ursprünglichen (Erst-)Hypothesen prüfen; gemeinsame Evaluierung der Effekte)
  3. „reagieren“ (das weitere Vorgehen auf Basis der Lernresultate adaptieren und nötigenfalls Neuhypothesen generieren, die wieder „getestet“ werden)

Dazu wieder einige kurze Erläuterungen:

Als eine der wesentlichsten Managementaufgaben stellt sich im Kontext der komplexen Probleme die Herausforderung, einen entsprechenden Rahmen zu schaffen, der den Entwurf und die darauf folgende Durchführung von Experimenten tatsächlich ermöglicht und fördert. Damit sind (zwar altbekannte, aber meist nur schwer realisierbare) Prinzipien adressiert, die seitens der Führungsverantwortlichen durch eigenes Verhalten gefördert (Vorbildwirkung) und durch entsprechende Struktursetzungen etabliert werden sollten, wie bspw.:

Wie schon deutlich wurde: Der wesentlichste Unterschied zu den anderen Domänen besteht darin, dass es hier darum geht ein Führungshandeln zu realisieren, dass vorerst mehr an ein „Forschungsprojekt“ erinnert, als an „übliches“ Management. In äußerst komplexen Situationen geht das soweit, dass man möglichst nicht nur ein einziges solches „Forschungsprojekt“ zur Erarbeitung eines ausreichend klaren Bildes startet, sondern zeitlich parallel mehrere. Das ergibt dann natürlich für sich ein manchmal nicht wenig komplexes Gesamtszenario, was dem berühmten „law of requisite variety“ von Ross Ashby (1958) Rechnung trägt; demzufolge kann einem komplexen Problemsystem nur mit einem komplexen Lösungssystem begegnet werden, will man die Dynamiken einigermaßen verstehen und mit halbwegs sicherer Wahrscheinlichkeit bestimmte Effekte erzielen.

Nur beispielhaft sollen hier nachfolgend einige konkrete Möglichkeiten (Methoden, „Instrumente“) aufgezeigt werden, wie man den damit verbundenen Herausforderungen konkret begegnen kann:

Die nicht zuordenbaren Zetteln werden in der Mitte platziert (Dom. „Disorder“).
So lässt sich relativ schnell letztendlich eine passende Zuordnung finden und - was gerade im Kontext der komplexen Probleme so bedeutsam ist - auch ein Konsens darüber, dass eine besondere Situation vorliegt, die eben auch besondere (komplexe) Vorgehensweisen erfordert. Häufig ergeben sich im Verlauf dieser ersten Situationsbeschreibung auch schon die ersten Verstehenshypothesen, die man dann für den nächsten Schritt aufgreifen kann.

Neuwaldegger Schleife

Abb. 6: „Neuwaldegger Schleife“ in Anlehnung an Königswieser/Exner 1998, siehe dazu auch Boos/ Mitterer (2014, 33)

 

Letzteres adressiert die wohl grundlegendste Haltung, die geradezu eine „conditio sine qua non“ für die Etablierung des nötigen sozialen Klimas zur Lösung komplexer Situationen darstellt (dazu insbes. Rogers 1973, 64ff).

Es soll nochmals betont werden, dass sich die Notwendigkeit in dieser Domäne ein maximales Ausmaß an „Prozessorientierung“ zu realisieren, aus dem Umstand ergibt, dass eine Analyse, wie sie bei komplizierten Systemzuständen angezeigt ist, so viele Parameter einbeziehen müsste, dass sie sehr lange (womöglich zu lange) dauern würde. Nachdem sich in komplexen Situationen die Bedingungen und Ausgangssituationen auch laufend ändern, lässt sich mit einem rein analytischen Zugang keine haltbare Situationsbeschreibung erstellen. Dynamische System-bedingungen lassen sich eben nicht „einfrieren“. So gilt es im Sinne einer „social practice“ fortlaufend(!) verschiedene Perspektiven einzuholen, wodurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass zumindest passager gültige, „viable“ (Glasersfeld, 1997) Beschreibungen emergieren können (siehe dazu Abb. 4 „emergent practice“). Gelingt in diesen Phasen tatsächlich ein „dialogischer Diskurs“, dann lässt sich, ganz im Sinne des „schöpferischen“ oder „generativen Zuhörens“ von Otto Scharmer (2015) - Stichwort „Presencing“ - eine Zukunft „entbergen“ oder hervorbringen (Stichwort „Emergenz“), die vorher (noch) gar nicht erkannt wurde.

Um eine solche Qualität an Kommunikation zu ermöglichen, braucht es nicht nur entsprechende Schulung, sondern auch das Zur-Verfügung-Stellen entsprechender Kontexte, Strukturformen oder Gesprächsformate.

 

Problemkontext 5: „Chaotische Systemzustände“

 

Chaotische Systemzustände

Abb. 7: Chaotische Systemzustände

 

Folgende Situationsmerkmale kennzeichnen typischerweise diese fünfte „Domäne“:

Wie schon in der Darstellung der typischen Situationsmerkmale deutlich wird: Die mit Abstand wichtigste Managementaufgabe besteht in dieser Domäne darin, möglichst rasch system-stabilisierende Wirkungen zu erzielen. Dave Snowden formuliert dazu bildhaft, es ginge in solchen Situationen nicht darum jetzt detailgenau zu erkennen, was der Fall ist, sondern in erster Linie darum, „die Blutung zu stoppen“. Erst nachdem ausreichend dafür Sorge getragen wurde, dass die Betroffenen wieder einigermaßen Sicherheit erleben, kann man daran gehen zu erkennen, in welchen „Zonen“ nach wie vor Stabilität zu erkennen ist. Diese Zonen sollten gefördert werden und dann gilt es alles daran zu setzen den Systemzustand in die komplexe, oder - wo es möglich ist - in die komplizierte Domäne zu transformieren.

Daraus ergibt sich für diese Situationen eine wieder andere Reihenfolge des schon bekannten Dreischritts:

  1. „agieren“ (Aktionen im Sinne des Krisenmanagements setzen, „schnelle“ Wirkungen mit der Zielsetzung anpeilen, die größten Gefahren abzuwehren und Instabilität zu reduzieren)
  2. „wahrnehmen“ (durch aufmerksames Monitoring die jeweils erzielten Wirkungen erkennen, die Stabilitätszonen aufspüren, aufsuchen und möglichst stärken)
  3. „reagieren“ (aufbauend auf den erkannten Wirkungen weitere Maßnahmen setzen in Richtung möglichst rascher Stabilisierung, Schritt für Schritt versuchen die entstandenen (Teil-) Probleme in Richtung der komplexen und komplizierten Domäne zu verschieben)

Einige Grundsätze haben sich in solchen Krisendynamiken bewährt:

Wie schon in dieser exemplarischen Aufzählung deutlich wird: Diese Prinzipien ergeben sich aus der ungewöhnlichen (Krisen-)Situation. Das ergibt eine Praxis, die für das Unternehmen bzw. die Organisationseinheit neu ist („novel practice“). Nie sollte der Zeitpunkt übersehen werden, ab dem es zu vermeiden gilt den Krisenmodus zu chronifizieren und also diese (hoffentlich) ungewohnte Führungspraxis auch wieder zu verändern.

Einige typische Fehler im Bereich der „chaotischen Probleme“

Wie verschiedentlich schon angedeutet wurde, zeigt dieses wirklich brauchbare Modell ein weiteres Mal: Exzellente Führung erfordert ein hohes Maß an Flexibilität in Hinsicht auf einen immer situativ anzupassenden Führungsstil, und ein dafür essentielles kognitives Vermögen gegebene Situationen entlang klarer Kategorien und Kriterien zu differenzieren (deskriptive Aspekte des Modells). Darüberhinaus sind, wie in diesem Modell in Ansätzen vorgestellt (davon ausgehend hier skizzenweise abgeleitet), auch Heuristiken, Handlungsgrundsätze, strategische Leitlinien, aber auch verschiedene konkrete Techniken vonnöten (normative Aspekte des Modells). Ist das Framework als Strukturhilfe schon gut etabliert, lässt sich dann auch dazu übergehen, die eigene Organisation dorthin zu entwickeln, dass die Problemdifferenzierung gewissermaßen eine Alltagsübung wird. Die Bedingungen für den Übergang von einer Domäne in eine andere wird dann im gesamten Team verstanden, es können entsprechende Strukturen im Rahmen der Organisation vorbereitet und verankert werden, wodurch es noch leichter gelingen kann eine gewisse Routine zu entwickeln. Die situationsbezogen jeweils nötigen Vorgehens-weisen können dann gemeinsam realisiert werden. Die dafür nötigen Kompetenzen lassen sich durch verschiedene Personalentwicklungsformate, wie Schulungen und Coaching in verschiedenen Settings, vermitteln bzw. trainieren.

Der Grundsatz, dass man Problemsituationen schon halb dadurch gelöst hat, wenn man sie differenziert erkannt und akzeptiert hat, kann dann dazu führen, dass man die so häufig komplexen, immer wieder komplizierten oder womöglich schon chaotischen Führungsprobleme dadurch besser „in den Griff bekommt“, indem man „passende Begriffe“ für die Probleme findet.

Peter Frenzel, 2019, www.tao.co.at

 


Fussnoten:

[1] Definiert als: Wechselwirkungen von gleichzeitig(!) zunehmender Dynamik und steigender Komplexität (aus "dynamics" (Dynamik) und „complexity" (Komplexität)) – siehe dazu z.B. Rieckmann, H. (1992) oder Kastner, M. (2017), auf den dieser Begriff angeblich ursprünglich zurückgeht.

[2] Zum Begriff der „run-away-systems“ siehe Baecker/Kluge 2003, 77

[3] Snowden, D. (2000); kompakt einführend dazu z.B. Brougham, G. (2015).

[4] Der Begriff „Cynefin“ (ausgesprochen als „Kai-ne-fin“) stammt aus dem walisischen und wird üblicherweise mit „Lebensraum“ oder „Platz“, „Ort“ übersetzt. Immer wieder (siehe dazu z.B. Wikipedia) wird dabei aber darauf hingewiesen, dass sich mit diesen Übersetzungen der ursprüngliche Wortsinn nicht wirklich treffen lässt; dazu müsste mit einem entsprechenden deutschen Begriff vermittelt werden können, dass wir alle mehrere Vergangenheiten haben, derer wir nur teilweise bewusst sein können: kulturelle, religiöse, geographische, stammesgeschichtliche usw. Snowden wählte diesen Begriff aus seiner ursprünglichen Heimat, um die evolutionäre Natur und die inhärente Unsicherheit komplexer Systeme zu veranschaulichen.

[5] Snowden, D. / Boone, M. E. (2007)

[6] Genaue Darstellungen solcher Vorgehensmodelle wie bspw. „Contextualisation“ finden sich in Brougham, G. (2015, 22ff)

[7] Die wohl prominenteste Untersuchung solcher typischer Problemverläufe findet sich in der Publikation von Dörner (1992).

[8] Der Begriff geht auf Dieter Dörner (1992, 290) zurück, siehe dort nähere Ausführungen.

[9] Zu den möglichen psychologischen Hintergründen des „finger pointing“- oder Bauernopfer-Ansatzes im Sinne immer(!) verkürzender Schuldigensuche siehe auch Frenzel (2010) „Grundsatz 8“.

[10] Siehe dazu Rosa (2012; 2014) und Frenzel (2015)

[11] Zu den potentiellen Nachteilen und Risiken von Team- bzw. Gruppenarbeiten siehe z.B. Ardelt-Gattringer et. al (1998). Zu den verschiedenen, beachtenswerten Phänomen der sozialen Form „Gruppe“ und Implikationen für professionelle Gruppenleitung, siehe bspw. Frenzel (2017).

[12] Zum Begriff der „Viabilität“ als Kriterium bei der Auswahl von Wirklichkeitsauffassungen wie auch zur Philosophie des „Radikalen Konstruktivismus“ siehe insbesondere v. Glasersfeld (1997) oder Simon (2006, 68f)

[13] Siehe dazu Vroom (2003).

[14] Siehe dazu z.B. Paulus et al. (2013)

[15] Siehe dazu z.B. Strauch u. Reijmer (2018)

[16] Siehe dazu Döring-Seipel / Lantermann (2015, 14)

[17] Siehe dazu Saur et al. (2014, 17)

[18] Dieser Terminus geht auf Dieter Dörner zurück und soll andeuten, dass es Situationen gibt, in denen man in bester Absicht ein identifiziertes Problem löst, nur um dann bemerken zu müssen, dass sich durch die Lösung des einen Problems ganz andere Probleme ergeben haben, mancherorts nennt man eine solche Maßnahme dann eine „Verschlimmbesserung“ .

[19] Siehe dazu Schatz, A. et al. (2014).

[20] Snowden/Boone (2007) formulieren dazu sinngemäß: Wenn sie versuchen, die Situation schnell unter Kontrolle zu bringen, werden sie Gelegenheiten für die Generierung von Informationen unterbinden. Führungskräfte, die vorschnell versuchen, in einem komplexen Kontext Ordnung zu schaffen, scheitern, aber diejenigen, die eine „Bühne“ schaffen, einen Schritt zurücktreten, Muster entstehen lassen und dann gemeinsam feststellen, welche wünschenswert sind, werden Erfolg haben.

[21] Siehe dazu Andersen (1990).

[22] Siehe dazu insbes. Baecker (1994).

[23] Vgl. dazu z.B.: Riesenhuber (2006).

[24] Übersetzung P.F.

 


Literatur:

Andersen, T. (1990): Das reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über Dialoge. Dortmund (Modernes Lernen) 1990

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Frenzel, P. (2015): Der spätmoderne Sisyphus - Vom Fortschritt zur ziellosen Fluchtbewegung auf "rutschenden Abhängen". (Ein bisschen mehr als eine) Buchbesprechung [Rosa, H. (2014): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Frankfurt (Suhrkamp)], in: TAO-Newsletter 03/2015, open access: https://www.tao.co.at/test/87-der-spätmoderne-sisyphus-vom-fortschritt-zur-ziellosen-fluchtbewegung-auf-rutschenden-abhängen.html

Frenzel, P. (2017): Zur fundamentalen Bedeutung der Gruppe als soziale Form. Orientierungshilfen und Thesen zum Arbeitsfeld „Gruppenleitung. In: TAO-Newsletter 02/2017, open access: https://www.tao.co.at/test/60-zur-fundamentalen-bedeutung-der-gruppe-als-soziale-form.htm

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Bilder/Fotos: s. Bildunterschrift

 

 

 

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