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Schmerzgrenze - Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt

Buchrezension

Joachim Bauer, Karl Blessing Verlag, 2011

Joachim Bauer hat ein Sensorium für relevante Themen und das Buch, das in seiner Brisanz aktueller nicht sein könnte, kommt zur rechten Zeit. In Zeiten, wo Großbritannien von Gewalt und Krawallen erschüttert wird, in Berlin jede Nacht die Autos brennen, wo in der arabischen Welt friedliche Demonstrationen gewalttätig niedergeschlagen werden, wo in Afrika - von der übrigen Welt kaum mehr bemerkt - die Kriege täglich Hunderte von Opfern fordern, fragt man sich zu Recht, woher dieses Gewaltpotenzial kommt und sämtliche hilflosen Analysen und Erklärungsversuche in Politik und Medien scheinen zu kurz zu greifen.

Joachim Bauer ist Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut und lehrt an der Universität Freiburg. Seine Bücher sind umfassend bekannt "Das Gedächtnis des Körpers", "Warum ich fühle, was Du fühlst" - zur Bedeutung der Spiegelneurone und "Das Prinzip Menschlichkeit" - zur Bedeutung von Menschenbildern und die fundamentale Ausrichtung des Menschen auf Kooperation, eine kritische Abrechnung mit dem Sozialdarwinismus und den Mythen des egoistischen Gens.

Der Autor geht in gewohnter Manier sehr fundamental an das Thema heran: Joachim Bauer hat wieder eine Unzahl von Studien in diesem Buch verarbeitet und untermauert seine Thesen wissenschaftlich fundiert, der laienhafte Leser/die laienhafte Leserin könnte das unmöglich überprüfen, was hier an Wissen verarbeitet wurde.

 

Bauer versteht Aggression und Gewalt synonym, muss dann aber doch zwischen konstruktiver und destruktiver Aggression unterscheiden. Aggression, verstanden im Sinne von aggredi - herangehen, anpacken, wird von ihm dem Motivationssystem zugeordnet und deshalb auch nicht als Aggression bezeichnet. Aggression per se ist nach seinem Verständnis für den Menschen kein lohnendes Unterfangen, sie lässt das Motivationssystem nicht anspringen. Der "Aggressionsapparat" - der anspringt, wenn jemand aggressiv reagiert oder handelt, ist ein vielfach vernetztes neurobiologisches System. Es kommt vor allem dann in Gang, wenn das Bindungsbedürfnis, das unser zentrales Motivationssystem ist, dauerhaft und schmerzlich frustriert wird. Wenn also jemand anhaltend, über längere Zeit hinweg sozial ausgegrenzt und ihm die soziale Akzeptanz, Zuwendung und Achtung vorenthalten wird, reagiert das Gehirn wie bei der Zufügung von physischem Schmerz. Bindung, Akzeptanz und Zugehörigkeit sind also überlebenswichtig. Aggression dient demnach ursprünglich dazu, auf dieses schmerzliche Fehlen aufmerksam zu machen und hat deshalb eine kommunikative Funktion, deren Botschaft verstanden werden sollte. Solange ist Aggression noch konstruktiv, auch wenn sie - wie der Autor mehrfach betont - damit weder entschuldigt noch gerechtfertigt wird. Destruktive Aggression entsteht dann, wenn dieses kommunikative Signal nicht verstanden wird, bzw. mit Gegenaggression geantwortet wird und damit ein Gewaltkreislauf entsteht.

Menschen, die in ihrem Leben immer wieder Ausgrenzung und Ablehnung erfahren haben, mitunter schwer traumatisiert wurden, entwickeln eine erhöhte Sensibilisierung auf diese schmerzhafte Erfahrung, d.h. die Schmerzgrenze, an der die Angst mobilisiert wird und die Aggression in Gang kommt, sinkt. Die andere Variante ist die totale Abstumpfung, wie sie bei Psychopathen zu finden ist.

Alltägliche Gewalt steht in auffälligem Zusammenhang mit der Verweigerung von Respekt und Ehre und der Vorenthaltung eines Platzes in der menschlichen Gemeinschaft - was übrigens in den Menschenrechten zu einem Grundrecht gehört. Dieser Cocktail ist hochgiftig und setzt demnach potenziell die Gewaltspirale in Gang.

Betroffen machten mich beim Lesen des Buches die statistischen Werte. Hier ein Auszug: Demnach sind 20% der Kinder in der westlichen Welt von Gewalt betroffen, 90% der schweren Gewalttaten werden von Männern begangen, Frauen neigen eher, wenn sie nicht ihre Aggression gegen sich selbst lenken, zu verbalen Spielarten der Aggression.
Über 25% der 12-19-jährigen Jugendlichen in Deutschland haben Darstellungen von schwerwiegender Gewalt einschließlich Folter, Kannibalismus und Hinrichtungen beobachtet, Kleinkinder mit hohem TV-Konsum zwischen dem 2. und dem 5. Lebensjahr zeigen im Vergleich mit anderen Kindern mit weniger TV-Konsum signifikant schlechtere Schulleistungen, leben ungesund, sind häufig übergewichtig und werden überdurchschnittlich häufiger gehänselt. Bei schweren Gewalttaten von Jugendlichen, wie die bekannt gewordenen Amokläufe, gab es die Kombination einer vorher bestehenden schweren psychischen Belastung, einer subjektiv ausgrenzend und demütigend erlebten Situation und eines mentalen Gewalttrainings durch Gewaltmedien sowie Ausübung von Gewalt in der Fantasie.

Armut und fehlender Zugang zur Bildung korrelieren signifikant mit Aggression und Gewalttaten. D.h. Soziale Ausgrenzung bedeutet Schmerz und erzeugt Aggression.
Nicht unbeträchtlich ist klarerweise nach diesen wissenschaftlichen Ergebnissen der Einfluss von Computer-Gewaltspielen und Gewaltfilmen im Fernsehen auf die menschliche Seele. Schon in den 70-iger Jahren hatten amerikanische Psychologen eindringlich davor gewarnt (dazu gibt es das immer noch aktuelle Buch "Stop teaching our kids to kill - A Call to Action Against TV, Movie and Video Game Violence " von Dave Grossman und Gloria Degaetano), aber bei der Gesetzgebung und Zensurbehörde kein Gehör gefunden. Mittlerweile belegen die Forschungen der Neurobiologie eindeutig, dass das Beobachten von Gewalt in Filmen nach nur 15 Minuten schon eine signifikante Erhöhung des Aggressionspotenzials bewirkt.
Bauer beschreibt beeindruckend, welchen sozialen Sprengstoff die systematische Ausgrenzung aus der Gemeinschaft und Demütigung ganzer Gesellschaftsgruppen beinhaltet und dass hier sowohl therapeutisch als auch primär prophylaktisch von politischer und pädagogischer Seite gehandelt werden muss. Dem Gesetz der Schmerzgrenze folgt nicht nur das Individuum, sondern auch ganze Gruppen.

Eine weiterer spannender Aspekt in Bauers brillanter Analyse ist das Nachvollziehen der "neolithischen Revolution", nach der sich die Menschen erstmals in ihrem Zusammenleben neu organisiert haben und das bis dahin geltende Recht der Egalität und Aushandlung von Konflikten durch das Zusammenleben in größeren Gemeinschaften und das Herausbilden von Hierarchien abgelöst wurde. Die früher intensiven Bindungen wurden abgelöst durch losere Beziehungen. So erklärt der Autor auch menschheitsgeschichtlich das Entstehen von Aggression.

"Der Verlust von Bindungen (Ablösung vom Elternhaus, die Erfahrung von Trennungen, Entlassung am Arbeitsplatz) sind unvermeidlicher Teil unseres Lebens, Bindungsverluste machen zugleich aber die Menschen sehr verletzlich. Zu einer wichtigen Funktion der Aggression gehört die Verteidigung von zwischenmenschlichen Bindungen. " Wenn diese Botschaft verstanden wird, kann der Gewaltspirale Einhalt geboten werden. "Wir müssen lernen, Aggression neu zu verstehen und darauf auch zu reagieren".
Es greift zu kurz und wird der gesellschaftlichen Bedeutung des Gewaltthemas nicht gerecht, wenn dem Phänomen - wie kürzlich in Großbritannien- mit einer Verschärfung des Polizeistaates und drastischen Strafen nur an der Oberfläche begegnet wird und die Wurzeln kaum bis gar nicht untersucht werden.

Das Buch ist trotz des hohen wissenschaftlichen Anspruches gut und vor allem spannend zu lesen. Es hilft dabei, Aggressions- und Gewaltphänomene in vielen Gesellschaftsbereichen - auch in Organisationen (z.B. Mobbing) zu verstehen.


Es empfiehlt sich jedoch, es nach Möglichkeit in einem Zug - von möglichst wenigen längeren Pausen unterbrochen - durchzulesen, da man sonst den Überblick verlieren könnte.

Carola Kaltenbach, www.tao.co.at

 

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