Buchrezension

Autoren: Georg Wögerbauer, Hans Wögerbauer, Orac Verlag, 2015

Irgendwann,…“rufen wir uns zusammen“, „treffen wir uns mal“, „vielleicht hast du mal Zeit“, „unternehmen wir doch mal was gemeinsam“ – die Liste der „Irgendwann“-Vorhaben kann unendlich fortgesetzt werden. Wer kennt diese Versprechungen nicht,

von denen man schon im Vorhinein weiß, dass sie nicht umgesetzt werden. Wir nutzen sie selbst, um keine verbindlichen Zusagen in stressigen Zeiten machen zu müssen, oder wir werden von PartnerInnen, FreundInnen, Bekannten, KollgeInnen entsprechend „vertröstet“…

9 R

Soziale KontakteDas Buch der beiden Autoren, beide Ärzte, hält uns - fast schon traditionell - mit Hilfe berührender Geschichten aus ihrem eigenen Leben, aus der Arbeit mit PatientInnen den Spiegel vor. In liebevoller Art und Weise wird man beim Lesen auf die eigenen Fallstricke und Ausreden hingewiesen. So könnte man – quasi als Beipacktext zu diesem Buch formulieren: Man entkommt sich selbst nicht - Betroffenheit unausweichlich! Kernthema des Buches sind die sogenannten „9 R“, ein Wortspiel mit neun Begriffen, die mit R beginnen und ein Synonym für unser „Unterwegs-Sein“ im eigenen Leben sein können. Sie sind entstanden auf der Wanderung nach Assisi, die Georg Wögerbauer mit seiner Frau Sigrid im Rahmen eines Auszeitjahres unternommen hat. Eine solche Wanderung ist die reine Selbsterfahrung und das Gehen legt unweigerlich die persönlichkeitsspezifischen Muster und Überlebensmodelle frei. So, wie man auf so einer Reise mit sich selbst umgeht, so geht man vermutlich auch im sonstigen Leben mit sich selbst, dem eigenen Körper und mit anderen Menschen um. Die Herausforderungen, die einem hier wie auch im Leben begegnen sind analog.

Ressourcen

Eines der 9R beschreibt das Thema „Ressourcen“. Wenn wir heute den Begriff verwenden, dann denken wir primär an materielle Ressourcen: Das Wirtschafts- und Arbeitsleben konzentriert sich auf die Verfügbarmachung materieller Ressourcen. Die in diesem Buch gemeinten Ressourcen beziehen sich auf Natur, Zeit, Stille, Beziehungen. Eine besonders berührende Geschichte erzählt Georg Wögerbauer von seinem Vortrag vor einer Ausbildungsgemeinschaft von Kolleginnen und Kollegen: Das Auditorium hatte applaudiert und Georg „nutzte“ die Zeit während des Applauses, um auf seinem Laptop den restlichen Vortrag zu strukturieren. Das nahm eine der zuhörenden AusbildnerInnen zum Anlass, um aufzustehen und zu fragen „Did you get it?“ – „of course“ war die Antwort, na klar, habe ich den Applaus mitbekommen. Worauf das Auditorium nochmals heftig klatschte und Georg unter Rührung bemerkte, dass er sich fast um seine „Ernte“ gebracht hätte, dass er den Applaus und die damit verbundene Wertschätzung nicht aufgenommen hatte. Wie oft gehen wir aus dem Kontakt und erledigen während eines Gespräches Tätigkeiten „nebenbei“, wir telefonieren und sitzen am Computer, wir sehen fern und reden gleichzeitig mit unserer Partnerin oder mit unserem Partner. Ich erinnere mich an so manches Telefonat mit meiner Tochter, die ein untrügliches Gespür dafür hatte und hat, wenn ich während eines Telefongesprächs mit ihr irgendwas anderes machte…“Mama, was machst Du gerade? Hörst Du mir zu?“ Beschämt musste ich eingestehen, dass ich in meinen Computer gestarrt hatte oder nebenbei meinen Schreibtisch aufräumte. Das hatte sich unsichtbar über das Telefon in der Art und Weise meiner Präsenz und meiner Antworten mitgeteilt.Wie oft bringen wir uns durch solches Verhalten um die Resonanz, um Berührung, um Wahrgenommen-Sein und bleiben dabei unerfüllt. Hartmut Rosa beschreibt in seinem gesellschaftskritischen Buch „Resonanz“ genau dieses Dilemma: Wir sehnen uns nach Resonanz, nach Wahrgenommen-Sein und können das, was wir täglich bekommen, nicht aufnehmen, weil wir ununterbrochen beschäftigt sind, etwas anderes zu tun, noch mehr „Wichtiges“ in noch weniger Zeit unterzubringen. Die Momente der Begegnung gehen in der Fülle des Tuns unter, Chancen einer qualitätvollen Begegnung vergehen so schnell, wie sie gekommen sind! Dabei ermöglicht erst das Innehalten, den Gehalt aufzunehmen und wirklich zu antworten.

Unsere Beziehungen und Begegnungen sind eine wichtige Ressource. Stille, Innehalten dient auch der Beziehungspflege zu uns selbst. „Im Zuhören entsteht erst das Verstanden-Werden, das wir in Krisenzeiten so dringend benötigen“, es beschenkt uns mit einer ganz anderen Qualität, als es gute Ratschläge vermögen. Im Zuhören kann Heilung erfolgen. Das Wertvollste, das wir uns schenken können, ist Zeit!

Risiko

Das Risiko – es beginnt dort, wo das Herz klopft, wo wir die Komfortzone verlassen und uns in neue Gefilde wagen. Risiko meint nicht, einen Bungee-Jump zu wagen, es meint nicht, sein Geld riskant zu investieren. Risiko meint, in der Begegnung Wachstumsschritte zu wagen, jenseits üblicher Verhaltensmuster. Besonders berührend ist die Geschichte einer Patientin, die in den wiederkehrenden Vorwürfen des Vaters, sie hätte nichts aus ihrem Leben gemacht, die Sorge um sie entdecken konnte und seine Liebe zu ihr. Als sie ihm das kurz vor seinem Tod auch sagen konnte, konnten sie gemeinsam weinen. „Diese Versöhnung war heilsam“ schreibt Hans Wögerbauer. Hier verdichtet sich Wachstum und Entwicklung. Es braucht dieses Risiko, das Wagnis, etwas anderes zu tun, um in der Tiefe zu heilen. Manchmal ist auch Vertrauen ein Risiko, das Treffen einer schon lange anstehenden Entscheidung oder auch Loslassen. Aufschieben, Kümmern, Durchhalten und fehlendes Vertrauen rauben uns die Kraft für unser Leben, wir funktionieren nur und sind nicht in Beziehung. Es ist auch ein Risiko, Störungen anzusprechen, das heißt: „Du bist mir wichtig genug, dass ich das mit dir besprechen will.“

Regeneration

Regeneration, eine Fähigkeit, die erschöpfte Menschen nicht mehr nutzen können. Im Beschleunigungs- oder Perfektionsrad gefangen, bleibt keine Energie mehr für die Freizeit, für die Beziehungspflege, fürs Ausruhen. Der lange Arm der Arbeit reicht bis weit in die Privatzeit der Menschen. Am Abend werden noch Emails beantwortet, Meetings vorbereitet, während die Partnerin alleine vor dem Fernseher sitzt, die Kinder ins Bett bringt oder die Hausarbeit erledigt. Jede Minute wird genützt, wir sind Meister im Optimieren unserer Zeit, trotzdem wird sie immer weniger und zerfließt uns gleichsam „zwischen den Fingern“. Die durch die permanente Erreichbarkeit aktivierte Dauerspannung reduziert in Wirklichkeit unsere Leistungsfähigkeit, Effizienz und Kreativität. Die Folgen sind chronische Erschöpfung, Lustlosigkeit und Müdigkeit.

Urlaube können dann „Inseln“ sein, um uns wieder aufzutanken. Allerdings beobachten viele Menschen, dass der Erholungswert schon nach mehreren Tagen Hochspannung wieder aufgebraucht ist und schlechte Laune und Überdrüssigkeit wieder die Oberhand gewinnen. Einer der ersten wesentlichen Schritte zur Wiedergewinnung von Kraft und Energie ist die Schaffung von Regenerationsräumen, Zeiten und Räumen, die “heilig“ sind, wo Mobiltelefon und Emailempfang abgeschaltet sind. „Das Hirn braucht eine Hängematte zum Schützen und Loslassen“. Dann entsteht wieder Raum für Pflege von Beziehungen, Bewegung, Meditation, etc.

Reflexion

In der Betriebsamkeit des Alltags bleibt praktisch kaum Zeit zum Nachdenken. Das Beschleunigungsrad muss sich weiter drehen: Für Innehalten, Nachdenken, Nach“sinnen“ haben wir keine Zeit. Reflexion kann den nötigen Raum für den Übergang schaffen, bevor wir Neues beginnen, zurückzuschauen, Erfolge genießen, „zu würdigen, was zu würdigen ist“, loszulassen, was loszulassen ist, vielleicht auch, um zu erkennen, warum etwas schief läuft, was die eigenen Anteile an Schwierigkeiten sind, die uns vielleicht wiederholt begegnen. Reflexion hilft, mich selbst und andere zu verstehen, sie kann im stillen Nachdenken oder in Gesprächen mit Partner, Freundin oder auch im Rahmen eines therapeutischen Prozesses stattfinden. „Unser Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, sagen die beiden Autoren.

Rhythmus

Rhythmus begleitet uns schon von der ersten Lebenssekunde an vom Moment der Zeugung weg. Wir sind von Anfang an in den Lebensrhythmen der Mutter eingebunden: Herzschlag, Atmung, Bewegung-Ruhe, Tag-Nacht, bis das eigene Herz zu schlagen beginnt und dann im Laufe der Entwicklung die eigenen Rhythmen entstehen und sich weiterentwickeln, von der Geburt bis zum Lebensende hin. Der Rhythmus beeinflusst unsere Lebensgestaltung: Der Wechsel von Aktivität und Ruhe, der Rhythmus unserer Atmung in Bewegung und Ruhe. Eigene Körperrhythmen zu beachten und in die Lebensgestaltung einzubeziehen, ist Grundlage von Gesundheit.

Raum

Wachstums- und Entwicklungsräume, Schutz- und Bewegungsräume, Genesungs- und Heilungsräume, Freiräume gestalten und erobern, Naturraum begehen und pflegen – das definiert den Raumbegriff neu und anders. Wir brauchen Genesungsräume, um von körperlichem und seelischem Leid heilen zu können, wir brauchen Schutzräume, um uns zurückzuziehen, wenn etwas zu nahe gegangen ist, wir brauchen Freiräume, um uns entfalten zu können, wir brauchen Beziehungsräume, um anderen wirklich begegnen zu können.

Reduktion

Wie schwer ist Reduktion in der Fülle unserer heutigen Lebensmöglichkeiten, oft haben wir die „Qual der Wahl“, die „Hölle der Möglichkeiten“ erschwert uns die Entscheidung. Von der Überfülle in die Einfachheit zu kommen ist heute Lebenskunst, unnötigen Ballast abzuwerfen und einfach nur zu sein. Das ist mit Verzicht und Loslassen verbunden – eine Herausforderung in einer Zeit, in der das „Mehr“ zum allgegenwärtigen Lebensprinzip geworden ist.

Rituale

Rituale begleiten und strukturieren unser Leben, sie geben Sicherheit, sind Orientierungshilfen und sind mitunter auch „wertvolle Haltegriffe auf dem Weg durchs Leben“. Sei es die Hochzeit, die Taufe oder auch nur kleine Rituale im Alltag, das gemeinsame Abendessen, die morgendliche Meditation oder einfach die regelmäßige Pause im Arbeitsalltag – sie alle rhythmisieren unser Leben, ermöglichen Regeneration und Integration von Erfahrungen, erlauben ein Innehalten und Kraft sammeln.

Rausch

Und nicht zuletzt der Rausch: Gemeint ist nicht der Alkohol- oder Drogenrausch, sondern der „Flow“, der entsteht, wenn wir ganz aufgehen im Dasein, einer Begegnung, einer Tätigkeit. Der Rausch, der durch ein wundervolles Abendessen, eine wunderbare Gesellschaft, die zusammensitzt und gut in Verbindung ist, entsteht, vermag uns zu nähren und zu erfüllen.

Viele Beispiele und Geschichten in diesem Buch eröffnen Reflexionsräume für das Erkennen der eigenen Fallen, Muster und Phantasieräume für persönliche Schritte in die Lebendigkeit. Die „9 R“ sind kein Lebensrezept, sondern sollen als „Impulse“ verstanden werden, „um aus eingelernten, oft nicht mehr lebendigen Verhaltensweisen wieder herauszukommen“, wünschen sich die beiden Autoren, sie können erste Schritte in Richtung einer bewussten Lebensgestaltung sein.

Ein Zitat von Carpentier beschreibt das Behandlungsethos der beiden „Wögerbauer-Brüder“ sehr eindrücklich: „Behandeln bedeutet nicht gleichzeitig Heilen. Behandeln heißt, den Körper so weit in Ordnung zu bringen, dass er die alte Ordnung wieder erträgt. Heilen aber bedeutet, eine Welt zu schaffen, die den Körper nicht mehr dem Kranksein aussetzt“. So persönlich dieses Buch angelegt ist, vermag es darüber hinaus relevante Impulse für die Gesundung der Gesellschaft zu liefern. Diese Haltung ist durch und durch authentisch im Text und den Geschichten spürbar. Das Buch vermag das Herz zu berühren, erinnert an Freud und Leid im eigenen Leben und lässt einem die eigene Lebendigkeit (wieder) spüren!

Viel Vergnügen beim Lesen und Schmökern!

für Sie zusammengefasst von Carola Kaltenbach, www.tao.co.at


Literaturhinweise:

- Georg und Hans Wögerbauer: Irgendwann kommt nie – Entscheidung zur Lebendigkeit. Orac 2015

- Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp 2016

Fotos: Fotolia, Orac

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