Fachbeiträge A-Z

NEIN-Sagen: Eine Vorbedingung selbstbestimmten Handelns?! - Hinweise auf hilfreiche Grenzen der Gefälligkeit

Peter Frenzel,

„So mancher meint, ein gutes Herz zu haben, und hat nur schwache Nerven." (Marie v. Ebner-Eschenbach)

Mit übler Laune und ohne jede Freude erledigt Manfred als Teamleiter die übernommene Aufgabe. Weder hat er sich vorstellen können, welche Folgewirkungen die mit „sanftem Druck“ erzwungene Zusage hat, ein angeblich ohnehin nur „knapp und schlicht“ benötigtes Protokoll des vergangenen Teamleiterworkshops zu verfassen, noch war ihm klar, dass es zudem eine nur äußerst knapp bemessene Frist gibt, die unliebsame Aufgabe zu erledigen.

Bei verspäteter Abgabe, so wurde ihm in nachfolgenden Gesprächen klar gemacht, sind Konsequenzen zu befürchten, die er dann eben alleine zu verantworten hätte. Spontan wollte er ja die direkte Aufforderung an ihn, sich doch als Protokollant zur Verfügung zu stellen, ablehnen. Er ahnte ja irgendwie, dass dann im Nachhinein wahrscheinlich wieder das mühsame Einsammeln der verschiedenen Berichte aus den aktuellen Projekten droht. Unbedingt, so wurde von allen gefordert, sollten diese Statusberichte Teil des Protokolls sein, und jeder der anderen Teamleiter*innen beteuerte, er würde seinen Mitarbeitenden klar machen, dass sie dringend diese Berichte liefern sollten. Das würde sicher schnell erledigt sein und außerdem, wollte man unbedingt ihn gewinnen, wisse man doch, dass es wohl Niemandem hier so leicht fiele, treffende Formulierungen zu finden und kein zweiter im gesamten Unternehmen habe eine so umfangreiche Übersicht über die aktuell gegebene Projektlandschaft. Voller Ärger über sich selbst und von permanenten Selbstvorwürfen geplagt, beschweren die vielfältigen Nebenwirkungen dieser leichtfertigen Zusage jetzt das aktuelle Arbeitsleben; ja mehr noch, es fällt Manfred zunehmend schwer seine eigene Laune nicht in Situationen auszuleben, die ganz im Gegenteil besondere Rücksicht auf Andere verlangen würden; - es gab deshalb schon die eine oder andere unangenehme und ganz sicher unnötige Konfliktsituation. Immer wieder quälen ihn dann bedauernde und reuevolle Gedanken: „Hätte ich doch nur meiner inneren Stimme folgend Nein gesagt! Wieder einmal ist mir meine Gutmütigkeit zur eigenen Last geworden, wieso nur, fällt es mir so schwer ‚Nein‘ zu sagen? Ich wollte wahrscheinlich wieder einmal besonders gut dastehen und wohl auch Konflikte vermeiden, die ich jetzt als Folge meiner vorschnellen Zusage, erst recht zu bewältigen habe. Das kommt davon, wenn man die eigenen Bedürfnisse ignoriert!“

Situationen, die ein vertretbares „Nein“ erfordern

Zahlreiche Rückmeldungen in unseren Seminaren und Workshops weisen in diese Richtung: Nein-Sagen erachtet wohl jede/r als eine wichtige Voraussetzung für eine möglichst weit reichende Selbstbestimmung im Arbeits- und Privatleben. Dennoch fällt es schwer. „Zeit haben heisst Nein sagen“[1] - diese Allerweltsweisheit ist sicher nicht neu, und trotzdem ergibt sich immer wieder ein quälendes Nachentscheidungsbedauern[2] als Folge von Zusagen, die trotz innerer Warnungen und vorausschauender Gewissheit in Hinsicht auf nachfolgende Reue, ausgesprochen werden.

In welchen Situationen sollte man sich denn nun besonders dieser Gefahr bewusst sein, welche Situationen erfordern geradezu ein „Nein“, in welchen Momenten ist es auch legitim und vertretbar sich abzugrenzen?

Nachfolgende Auflistung ist sicher nicht erschöpfend:

Wie erwähnt, ließe sich diese Liste sicherlich noch fortsetzen. Wesentlich scheint noch darauf hinzuweisen, dass mit der Parteinahme für ein klares „Nein“ keineswegs eine Haltung propagiert werden soll, die ohne jede soziale Rücksicht nur die eigenen Vorteile zu verteidigen sucht. Eine differenzierte weil sorgfältig reflektierte Selbstfürsorge ist von selbstsüchtigem Verhalten strikt zu unterscheiden. Diese Differenzierung scheint gerade in Zeiten des ungebremst forcierten Neoliberalismus als Lebens- und Werthaltung bedeutsam. Wie oft hört man Aussagen wie: „Sei ganz Du selbst und hör auf, dich ständig um andere zu kümmern, sonst gehst Du unter. Schließlich ist sich jeder selbst der Nächste. Verantwortlich bist Du nur für Dich selbst!“

Solche und ähnliche Aussagen, womöglich noch gestützt mit allerlei „Weisheiten“ aus einer Psychopopkultur befördern eine Haltung, die als „Emanzipation 2. Ordnung“ bezeichnet wurde: Man pfeift auf die permanente Forderung nach „politisch korrektem“ Verhalten und gefällt sich darin, einem von sogenannten „Gutmenschen“ angeblich vorgegebenen Mainstream in einer seltsamen Spielart von „Zivilcourage“ zu widerstehen.

„Jeder ist seines Glückes Schmied“, einer der zentralsten neoliberalen Slogans, versucht ideologisch ein Programm zu stützen, das uns unweigerlich und mittlerweile unübersehbar ins Unglück führt. Es gilt, so das mehr oder weniger unterschwellige Credo, eine Gesellschaft zu realisieren, in der es von starken, angeblich selbstverwirklichten Einzelnen wimmelt. Die daraus folgende Forderung nach Selbstoptimierung bringt als eine Art „Kollateralschaden“ eben ausgefahrene Ellbogen als Ausdruck erodierender Solidarität und mangelnder Hilfsbereitschaft mit sich. Wer sich dagegen nicht ausreichend wehren kann, ist letztlich selbst dran schuld, schließlich steht es ja jedem frei sich abzugrenzen. Eine solche Haltung negiert ein Schicksal, das uns Menschen unentrinnbar gegeben ist. Unsere Beziehungsangewiesenheit als conditio humana lässt sich nur scheinbar und zeitlich begrenzt abdunkeln. Das Urverhältnis menschlicher „Sorge“ tritt spätestens in Krisenzeiten voll ins Licht: Die Spannung der Sorge um sich selbst, die Selbstfürsorge, vor Hintergrund der Sorge um und für den Anderen, die solidarische Fürsorge.

Welche „guten Gründe“ sprechen für ein vertretbares „Nein“?

Die wohl bedeutsamste und gleichzeitig allgemeinste Begründung ist in einer altbekannten, existenzialistisch getönten Weisheitsregel schnell gefunden: Nur allzu häufig ist ein „Ja“ vor Hintergrund begrenzter Zeit gleichbedeutend mit einem „Nein“ für eine dadurch nicht mehr realisierbare Option.

Sowohl in meiner psychotherapeutischen Praxis, als auch in zahlreichen Coachings, lässt sich immer wieder der zweischneidige Charakter der privilegierten westlichen Konsumgesellschaft feststellen. Die „Multioptionsgesellschaft“, so die von Peter Gross[4] treffend formulierte Bezeichnung, bewirkt ein als unendlich erlebtes, individuell drängend empfundenes und kollektiv permanent befördertes Begehren nach „Mehr“. Die als „grenzenlos“ suggerierten Wahlmöglichkeiten führen nicht nur immer wieder zu überfordernder Desorientierung, sondern auch mitunter zu einer lähmenden Stagnation. Das Bewusstsein, dass jede getroffene Entscheidung im Rahmen der gegebenen Vielfalt an Möglichkeiten in Hinsicht auf Konsumgüter und Unterhaltungsangeboten, sich nur auf Kosten dadurch unterlassener Optionen realisieren lässt, bewirkt nicht selten eine ernstzunehmende psychische Belastung. Im Hintergrund stehen tatsächlich existenzielle Fragen: Nicht nur „Was will ich (wirklich)?“, sondern - sehr viel grundsätzlicher damit verbunden - „Wer bin ich (wirklich)?“

Multioption question mark pixabayIm Zusammenwirken mit einer sich daraus ergebenden, permanenten Angst etwas zu verpassen oder ungenutzt zu lassen, wird verständlich, dass sich „Depression“ als eine der häufigsten Zivilisationserkrankungen in westlichen Gesellschaften entwickeln könnte[5]. Angetrieben von omnipräsenten („sozialen“) Medien ergibt eine bildgewaltig offerierte, überwältigende Vielfalt an Optionen eine historisch einzigartige Situation: Die erlebte Kluft zwischen dem, was man könnte und dem, was sich tatsächlich in zunehmend verknappt erlebten Zeiträumen realisieren lässt, wächst ins persönlich Unerträgliche. Der täglich getriggerte Reiz des Potenzials stellt derart viel zur Disposition, dass eine depressive Resignation folgelogisch scheint. Wird schließlich gar „das Leben als letzte Gelegenheit“[6] (so ein treffender Buchtitel) erlebt, dann ist eine Art „existenzieller Stress“ die Folge und gleichzeitig als einziger Ausweg die Herausforderung adressiert, persönliche Voraussetzungen zu entwickeln an den richtigen Stellen ein klares „Nein“ artikulieren und vertreten zu können.

Die hier angesprochenen Vorbedingungen führen in ein besonders schwieriges Gelände psychosozialer, gesellschaftspolitischer wie auch ethischer Erwägungen: Wie lassen sich eigene Bedürfnisse möglichst unverzerrt erkennen und davon ausgehend dann eine tägliche Lebensgestaltung realisieren, die diesen Bedürfnissen in einer Weise Rechnung trägt, die auch die Bedürfnisse aller anderen Lebensformen ausreichend berücksichtigt?

Die damit verbundenen Fragen sind derart schwierig, dass sie an dieser Stelle nur als Andeutung ins Treffen geführt werden können. Ist damit doch nicht weniger angesprochen, als diese so weit reichende Unterscheidung von „wahren“ und „falschen“ Bedürfnissen, wie sie insbesondere in den 1960er-Jahren von der „Kritischen Theorie“ entwickelt wurde.

Sofort erhebt sich dabei die Frage, wer denn in berechtigter Weise eine solche Unterscheidung treffen dürfe. Ist damit nicht die Behauptung im Raum, wir selbst als durchschnittliche Konsumenten würden nicht mehr wirklich wissen, was wir „eigentlich“ wollen? Sind wir also als permanente Adressaten gewiefter indoktrinatorischer Propaganda schon womöglich daran gehindert ein klares „Nein“ zu artikulieren, weil es bereits daran fehlt zu erkennen, wozu wir „eigentlich“ ein „Ja“ sagen wollen?
„Protect me from what I want“ - so formulierte 1982 die Künstlerin Jenny Holzer auf einem Light Board am Times Square in New York einen Stoßseufzer, der seinen Ursprung in diesem so tiefreichenden Dilemma hat. Der mittlerweile althergebrachte Begriff der „Entfremdung“ ist hier in assoziativer Nähe und erneut sind enorm schwierige Fragen aufgeworfen:

„Welches Tribunal kann für sich die Autorität der Entscheidung beanspruchen? In letzter Instanz muss die Frage, was wahre und falsche Bedürfnisse sind, von den Individuen selbst beantwortet werden, das heisst sofern und wenn sie frei sind, ihre eigene Antwort zu geben. Solange sie davon abgehalten werden, autonom zu sein, solange sie (bis in ihre Triebe hinein) geschult und manipuliert werden, kann ihre Antwort auf diese Frage nicht als ihre eigene verstanden werden.“ (siehe Marcuse 1968, 26) Wenn man dabei davon ausgeht, dass unsere Bedürfnisse zugleich eine Art Garant und „Kompass“ für ein möglichst selbstbestimmtes Leben sein müssten und damit die unhintergehbare Voraussetzung für kollektiv unternommene Befreiungsbewegungen; sie eben aber auch unter bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen das berühmte „Opium fürs Volk“ ermöglichen, das uns gegen beabsichtigte Unterdrückung blind und taub stellt, dann gilt es insbesondere die „gesunden“ Bedürfnisse zu entdecken und zu fördern. Die Basis einer solchen Unterscheidung bildet eine aus Sicht der Humanistischen Psychologie geradezu unerschütterliche Überzeugung, dass der behauptete gesellschaftsweit etablierte Entfremdungszusammenhang nicht gänzlich fugendicht ist. Die Sehnsüchte nach einem „wahren Leben im Falschen“[7], und das zeigt sich in meiner eigenen Therapie- wie auch Beratungspraxis deutlich, sind eben nicht zur Gänze auslöschbar. Verschiedene Psychotherapieverfahren, die sich in diesem Sinne als „emanzipatorisch aufdeckend“ verstehen, können hier tatsächlich Unterstützung bieten, wenn es gilt, eine sehr grundsätzliche Voraussetzung für ein dann wirklich authentisches „Nein“ bzw. „Ja“ zu schaffen. Carl Rogers hat dafür, auf Basis sorgfältiger und jahrelanger empirischer Forschung, ein theoretisches Persönlichkeitsmodell entworfen, das als eine idealtypische Konstruktion einem „Ziel der sozialen Evolution“ (Rogers 1987, 59) gleichzusetzen wäre. Eine Zielsetzung freilich, die in gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhängen explizit als „hypothetisch“ ausgewiesen bleiben muss. Dieses als „fully functioning person“ (ebd., 59ff) bezeichnete Konzept bietet, verbunden mit daran anknüpfenden Aussagen zur Therapiepraxis[8], eine hilfreiche Orientierung sowohl für psychosoziale Arbeit, wie auch für die lebenslange Aufgabe eigener Persönlichkeitsentwicklung.

Die Fähigkeit auf Basis persönlich tatsächlich bedeutsamer Bedürfnisse „Nein“ zu sagen, ist also - bei genauerer Betrachtung - nicht immer schnell und einfach herbeizuführen. Nicht weiter verwunderlich, dass die üblichen Appelle aus der zahlreich produzierten Ratgeberliteratur meist völlig zu kurz greifen. Einfach nur herauszufinden, so die typische Empfehlung, „was einem wirklich Spaß macht, was einem wirklich etwas gibt“, dann die persönlich richtigen Prioritäten zu setzen, das „Nein“ täglich zu trainieren und so weiter … alle diese Aufforderungen ergeben nur ein weiteres Mal eine Art Zwang zur Selbstoptimierung, der womöglich zusätzlichen Frust erzeugt, wenn es dann, trotz guter Vorsätze, nicht und nicht gelingen will.

Typische „innere Hindernisse“ für ein klares „Nein“

Wie lassen sich nun durch eine phänomenologische Betrachtung die typischen „inneren“ Hindernisse identifizieren, die einer klaren Abgrenzung gegenüber Strategien zur Erfüllung eigentlich „falscher“ Bedürfnisse entgegenstehen? In welchen inneren „Scripts“ finden sich die typischen „Fallen“, die eine eigentlich unpassende Gefügigkeit oder eine nicht wirklich auf Basis eigener Motive gegründete Gefälligkeit ergeben?

In mittlerweile zahlreichen Seminaren zum Thema „Stressbewältigung - Zum Umgang mit Vielfalt und Zeitdruck“ oder „Selbstorganisation im Arbeitsleben“ u. dgl. konnten wir durch Befragung der Seminarteilnehmenden eine nun schon umfangreiche Sammlung anlegen.

Folgende innere Motive, Glaubenssätze oder Befürchtungen, die immer wieder das klare „Nein“ verhindern, wurden genannt:

Typische Strategien, um trotz Widerständen ein „Ja“ zu bewirken

Als besonders hilfreich hat sich in unseren Seminaren erwiesen, die Teilnehmenden mit einer persönlichen Forschungsfrage zu konfrontieren: Welche strategischen Manöver, die immer wieder dazu führen, dass wider eigentlich ablehnender Impulse, ein Auftrag übernommen wird, sind ihnen aus ihrem Alltag bekannt? So kann, noch dazu personenspezifisch, bewusst werden, welche „Köder“ einem denn besonders in Gefahr bringen, Zusagen zu äußern, die man später dann bereut.

Die folgenden Strategien scheinen besonders erfolgversprechend zu sein, weil sie offenkundig Bedürfnisse der Adressaten treffen:

Diese Auflistung von möglichen Strategien ist sicher nicht taxativ, es lohnt sich darüber weiter nachzudenken, welche der verschiedenen „Köder“ am ehesten diejenigen sind, die einem dazu bringen von eigenen Prioritäten und berechtigten Bedürfnissen und Interessen abzurücken. Im Wesentlichen, das zeigen Befunde aus der Motivationsforschung, werden diese Verführbarkeiten auf die identifizierten psychischen Grundbedürfnisse rückführbar sein. Das wären, der „Self Determination Theory“[10] folgend, Bedürfnisse im Zusammenhang mit den Wünschen nach Selbstbestimmung (größtmögliche Autonomie), Kompetenz (Selbstwirksamkeit, Möglichkeiten zur Gestaltung, Herausforderungen, Selbstverwirklichung,…) und - vermutlich am bedeutendsten - Wünsche nach sozialer Einbindung (Anerkennung, Zugehörigkeit,…).

Hilfreiche Strategien und Tipps für ein vertretbares „Nein-Sagen“

hand gesture pixabay

Was lässt sich nun vor Hintergrund der bisherigen Ausführungen im Bedarfsfall unternehmen, um die Konsequenzen selbstschädigender Zusagen größtmöglich zu vermeiden?

Präventive Strategien

Damit man gar nicht erst Gefahr läuft überrumpelt zu werden, wäre es nötig, die eigenen Arbeitstage möglichst klar zu strukturieren. Eine klare und mit Begründungen darstellbare Tagesplanung hilft selbstverständlich enorm, sich gegenüber unberechtigt erscheinenden Beauftragungsversuchen abzugrenzen. Je nachvollziehbarer dabei die zu erledigenden Arbeiten sind, desto leichter wird es auch fallen, die nötige Differenzierung zu treffen, zwischen einer (womöglich leicht angreifbaren) Rechtfertigung und einer im Vergleich dazu „wasserdichten“ Begründung.

Eine persönliche Voraussetzung wird dabei (wie oben schon ausgeführt) in einer möglichst tiefreichenden Reflektiertheit zu finden sein, über die eigenen Bedürfnisse und aktuellen Interessen tatsächlich auch Bescheid zu wissen. Die dadurch sich ergebenden Prioritäten werden insbesondere dann wirkungsvoll ins Treffen geführt werden können, wenn auch die „dahinter liegenden“ Bedürfnisse transparent kommuniziert werden. Die Erfahrung zeigt, dass bei Kommunikation von persönliche Bedürfnissen, das Gegenüber sehr viel eher zu einem empathischen Nachvollzug der Situation eingeladen werden kann, als wenn man nur dünne Ausflüchte ins Treffen führt. In diesem Zusammenhang kann man auf die Konzeptionen der sog. „gewaltfreien Kommunikation“[11] hinweisen. Die Praxis zeigt, dass bei einer klaren Äußerung von Bedürfnissen ein Umstand zum Tragen kommt, der manchmal übersehen wird: Bedürfnisse - so ein zentrales Credo von Marshall Rosenberg - sind tatsächlich allen Menschen gemeinsam und demnach unabhängig von Zeiten (Epochen), Orten (Regionen und Kulturen) und Personen. Deshalb können wir geäußerte Bedürfnisse von anderen auch so mühelos nachvollziehen; ist das erst einmal gelungen, eröffnen sich sehr viel wahrscheinlicher für alle Beteiligten akzeptable Verhandlungsergebnisse, die ihre Tragfähigkeit daraus beziehen, dass die gegenseitig transparent erfahrenen Bedürfnisse eben so weit wie möglich berücksichtigt werden können.

Häufig wurde uns berichtet, dass man eigentlich schon vorhersagen könnte, welche Personen im eigenen Arbeitsumfeld mit welchen typischen Anliegen immer wieder versuchen, sich selbst auf Kosten Anderer zu entlasten. Ganz praktisch könnte in diesem Zusammenhang hilfreich sein, sich die Zeit zu nehmen und einmal konkret aufzulisten, welche Aufgaben man sicher nicht übernehmen oder welche Erwartungen man auch nicht erfüllen will bzw. welche Aufgaben einem aktuell übertragen wurden und welche Zeitbedarfe und Prioritäten sich dadurch folgelogisch ergeben. So lässt sich gewissermaßen präventiv ein Argumentarium vorbereiten, das man dann im Bedarfsfall schnell „zur Hand“ hat.

Eine weitere Präventionsstrategie findet sich in einer Anregung, die darüber hinaus eine Vorbedingung für reibungslose Kooperation darstellt: Eine klar funktional abgegrenzte Beschreibung der eigenen Aufgabenfelder („job description“); die sollte dann selbstverständlich auch unmissverständlich mit allen Kooperationspartner*innen abgesprochen sein und könnte dann noch ergänzt werden durch konkrete Absprachen und Regeln, wie man denn mit den immer verbleibenden „Graubereichen“ der besprochenen Zuständigkeiten gemeinsam verfahren will.

Strategien und Tipps zum „Nein-Sagen“

Im schon erwähnten Buch „Zeit haben heisst Nein sagen“ findet sich eine Art „Checkliste“, die beachtet werden sollte bevor man „Ja“ sagt; hier nachfolgend mit einigen Ergänzungen:

  1. Was ist das genau, was ich tun soll? Betrifft das Anliegen den Arbeitskontext, handelt es sich eher um einen persönlichen Gefallen, was wären die damit verbundenen Aktivitäten?
  2. Möchte ich das wirklich tun oder geben? Scheint es mir angemessen, legitim oder opportun?
  3. In welchem Beziehungsverhältnis stehe ich zu der Person, die mich mit einem Anliegen konfrontiert?
  4. Welches Zeitbudget steht mir zur Verfügung, habe ich im Moment genügend Energie und Lust?
  5. Welche Zeitschuld gehe ich dadurch ein?
  6. Welche Konsequenzen hat diese Zusage unmittelbar? Gibt es weitere Folgewirkungen?
  7. Welche anderen (wichtigen?) Arbeiten leiden darunter?
  8. Mache ich die Zusage nur, weil ich mich „aufgewertet“ fühlen, unentbehrlich sein will…?
  9. Will der andere durch Verführung etwas erreichen (verdeckte Interventionen und Intentionen)?
  10. Was verneine ich, indem ich diese Verpflichtung(en) eingehe?[12]

Immer wieder findet man verschiedene konkrete Tipps für Situationen, die ein klares, vertretbares „Nein“ erfordern, manche davon sind in verschiedenen Momenten tatsächlich hilfreich:

Noch einige letzte Tipps für das „nachträgliche Nein“

Nicht selten wird, den Forderungen nach der oben schon erwähnten berühmten Handschlagqualität folgend, schlicht übersehen, dass es auch Situationen gibt, die klar für ein nachträgliches „Nein“ sprechen:

Der letzte Tipp ist für die Situation gedacht, dass man trotz aller dieser bis jetzt formulierten Überlegungen eben doch eine Aufgabe übernimmt, die man eigentlich klar ablehnen wollte. Auch für ein nachträgliches „Nein“ gibt es eben manchmal keine Optionen mehr.
In einem solchen Fall ist es am besten, man gibt sich einen inneren Ruck und entscheidet sich nachträglich trotz aller Widrigkeiten klar dafür, die Aufgabe bestmöglich auszuführen. Nur so kann es gelingen, dass man dann nicht noch neben der ungeliebten Aufgabe auch noch an den eigenen Selbstvorwürfen leidet und mit einer besonders unangenehmen Auswirkung einer kognitiven Dissonanz zu kämpfen hat, - dem schon erwähnten quälenden Nachentscheidungsbedauern. In einer solchen Situation sollte man sich selbst mit liebevoller Nachsicht behandeln. Ist doch die Fähigkeit „Nein“ zu sagen immerhin, so wurde schon formuliert, der erste Schritt zur Freiheit im Sinne eines größtmöglich selbstbestimmten Lebens; - und diese Freiheit, die gilt es tatsächlich immer wieder gegen nicht unbedeutende Widerstände neu, auch in den hier behandelten „alltäglichen Momenten“, zu erkämpfen bzw. zu verteidigen.

Jean-Jaques Rousseau wird in diesem Zusammenhang der erhellende Gedanke zugeschrieben: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“

© Peter Frenzel, Wien 2019, www.tao.co.at


Fussnoten

[1] Siehe dazu den gleichnamigen Buchtitel Höglinger, A. (2000)

[2] Siehe dazu Festinger, L. (2012): Theorie der Kognitiven Dissonanz. Huber (Bern) 2012

[3] Marquard, O. (1986): Apologie des Zufälligen. Reclam (Stuttgart) 1986; siehe dazu auch einen lesenswerten Essay über die Bedeutung von Fristen von Niklas Luhmann, neu herausgegeben von Christian Geyer (2013): Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten. (1971)

[4] Gross, P. (1994)

[5] Siehe dazu z.B. die Eintragung des deut. Gesundheitsministerium: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/praevention/gesundheitsgefahren/depression.html; Zugriff am 1.12.2019 (Einschätzung der WHO)

[6] Gronemeyer, M (1996) prägt in diesem Zusammenhang in ihrem Buch auch den Begriff der „Versäumnisgesellschaft“.

[7] Vgl. dazu die berühmte, schon sprichwörtliche gewordene Sentenz von Theodor W. Adorno in dessen Buch „Minima Moralia“ (1997, 43): „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

[8] Siehe dazu Rogers 1957.

[9] Vgl. dazu Merl, H. (2002), 46-63

[10] Vgl. dazu Deci, E. / Ryan, R. (2008)

[11] Vgl. dazu Rosenberg, M. (2010)

[12] Vgl. dazu Höglinger, A. (2000), S. 61

 


Literatur:

Adorno, T. (1997): Minima Moralia. In: Gesammelte Schriften 4, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1997

Deci, E. / Ryan, E. (2008): Self-Determination Theory: A Macrotheory of Human Motivation, Development, and Health. In: Canadian Psychology 49, 182–185

Festinger, L. (1978): Theorie der kognitiven Dissonanz. Bern (Huber) 1978

Gronemeyer, M. (1996): Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. 2. Aufl., Darmstadt (Primus) 1996

Gross, P. (1994): Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt (Suhrkamp) 1994

Höglinger, A. (2000): Zeit haben heißt Nein sagen. Ein Arbeitsbuch zur Selbstorganisation, Linz (Eigenverlag Höglinger), 2. Aufl. 2000

Luhmann, N. (1971): Die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des Befristeten, neu hrsg. von Geyer, C. (2013), Berlin (Kadmos) 2013

Marcuse, H. (1968): Der eindimensionale Mensch. Berlin (Neuwied) 1968

Merl. H. (2002): Der Traum vom gelungenem Selbst. Psychotherapie Forum Bd. 10, Heft 1, Wien (Springer) 2002, 46-63

Rogers, C. (1957): The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change. In: Journal of Consulting Psychology 21,2, 95-103; dt.: Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Persönlichkeitsentwicklung durch Psychotherapie, in: Rogers/Schmid 1991, 165-184

Rogers, C. (1987): Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes, Köln: GwG-Verlag. [Original 1959: A theory of therapy, personality and interpersonal relationship, as developed in the client-centered framework. In S. Koch (Ed.), Psychology, a study of science (Vol.3; pp.184-256). New York: McGraw-Hill.]

Rosenberg, M. (2010): Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. 9. Aufl. Paderborn (Junfermann) 2010

 

Bilder/Fotos: www.tao.co.at, Ingrid Obermayr, pixabay

 

 

 

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